Egorepublik Deutschland: Wie uns die Totengräber Europas in den Abgrund reißen (German Edition)
bürokratisch? Haben sich die Verantwortlichen auf eine Vorstellung von Europa eingelassen, die nur daraus besteht, dass uns die Pleitiers unser hart erarbeitetes Geld aus der Tasche ziehen? Oder sind die weltweiten Probleme so erdrückend geworden, dass die tägliche Sorge um die eigene Zukunft alle sozusagen »übergeordneten«, nicht durch die Zwänge des Augenblicks ausgelösten Projekte – wie eben Europa – zweitrangig erscheinen lässt?
Längst ist es schon die dritte nach Kriegsbeginn geborene Generation von Europäerinnen und Europäern, deren Erfahrungen, deren Anliegen und deren Weltbild das Geschehen prägen, deren Träume, deren Lebensziele und deren materielle Interessen ihr Wahlverhalten bestimmen. Für die meisten von ihnen ist es selbstverständlich, frei in der Welt umherreisen und leben zu können, wo es ihnen gefällt. Die Achtung der Menschenrechte durch alle sich als demokratisch verstehenden Staaten nehmen sie ebenso fraglos für sich in Anspruch wie das Recht auf freie Meinungsäußerung. Für diejenigen, die das Glück haben, Bürgerin oder Bürger eines Landes zu sein, das der Europäischen Union angehört, scheint zudem keine ernsthafte Notwendigkeit erkennbar zu sein, warum sie sich allzu viele Gedanken über die weitere Entwicklung machen oder sich gar dafür besonders einsetzen sollten. Wenn nötig, entzieht sich ja so etwas ohnehin dem eigenen Einfluss, wird durch irgendwelche abgehobenen Politiker oder gar in den geheimen Zirkeln von Finanzhaien und Spekulanten entschieden …
Weit größer noch dürfte die Zahl derjenigen sein, die ganz andere Sorgen haben, weil sie um ihre Zukunft bangen müssen. Obwohl gut ausgebildet, können sie sich in keiner Weise darauf verlassen, dass ihnen irgendwann einmal das Glück eines sicheren Arbeitsplatzes beschieden sein wird. Andere, die bereits eine Familie gegründet haben, stehen gar von heute auf morgen vor einer ungewissen Zukunft, weil sie plötzlich arbeitslos sind. Was schert sie da die Zukunft Europas?
Noch wieder andere gibt es, aus deren Sicht die Vorstellungen der vorangegangenen Generationen ohnehin durch eine neue Wirklichkeit überholt sind. Man hat ihnen beigebracht, dass jeder seines Glückes eigener Schmied sei. Sie haben gelernt, dass nur die eigenen Ellenbogen zählen, wenn man im Leben vorankommen will. Rücksichtnahme auf andere, ob es die weniger Erfolgreichen, die Benachteiligten oder ob es gar Rivalen sind, ist da allemal hinderlich. Und ganz besonders gilt das für noch so blumig daherkommende Appelle, die eigenen Interessen zugunsten irgendwelcher scheinbar inhaltslosen Seifenblasen wie des »gemeinen Wohls« hintanzustellen.
Und dann gibt es die im Grunde hoffnungsfroh stimmende wachsende Zahl derjenigen, die sich im Sinne des Wortes (und der so auflagenstarken Aufforderung des liebenswerten Stéphane Hessel) »empören« – und dafür auf die Straße gehen. Es sind die jungen Menschen, die über Wochen hinweg die Puerta del Sol in Madrid besetzt gehalten haben, um gegen die Allmacht der Finanzwelt zu protestieren, es sind die Anhänger der »Occupy«-Bewegung mit ihrem Aufstand gegen die verachtenswerte Unmoral des Profit- und Bonusdenkens an den Börsen der Welt und in den Management-Etagen der Großunternehmen. Sie träumen von einer Gesellschaft, der es gelingt, sich auf allgemeinverbindliche Regeln von Moral und Anstand zu besinnen, sind bereit, dafür zu kämpfen und Opfer auf sich zu nehmen. Zugleich haben sie jegliches Vertrauen in die bestehenden Parteien und deren führende Persönlichkeiten verloren. Genau wie die sich in manchen europäischen Ländern ausbreitenden »Piraten« stimmen sie alle darin überein, dass in der ganzen freiheitlichen Welt neue politische Strukturen geschaffen werden müssen, um mit den Problemen der Gegenwart und Zukunft fertig werden zu können. Begeisterung für gemeinsame Ideale: Sie ist bei vielen dieser jungen Menschen vorhanden, nicht anders als bei all denen, die das Wunder des »arabischen Frühlings« ausgelöst haben. Wieso scheinen diese Ideale mit denen von der Vereinigung Europas nichts zu tun zu haben? Wieso nur gelingt es den politisch Verantwortlichen nicht, hier einen Zusammenhang herzustellen und die Frage zu stellen: Wie wollen wir zukünftig in Europa leben?
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Wer könnte ernsthaft die Augen vor diesen auseinanderstrebenden Entwicklungen verschließen? Vor einem solchen Hintergrund kann der Verlust der Erinnerungsfähigkeit an die eigene Geschichte sehr
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