Egorepublik Deutschland: Wie uns die Totengräber Europas in den Abgrund reißen (German Edition)
überwiegend den Interessen anonymer Bürokraten zu dienen. Ihrem Naturell entsprechend flüchteten sich Mitterrand und Kohl stattdessen in große Gesten wie ihren für die Medien inszenierten Händedruck an den Soldatengräbern des Schlachtfelds von Verdun. In Wirklichkeit schien freilich dahinter ihr mangelndes Gespür für die zunehmende Dringlichkeit des europäischen Vorhabens auf. Durch ernsthafte Initiativen, die Einigung Europas grundlegend voranzubringen, sind sie jedenfalls nicht aufgefallen: Trotz seiner unbestritten tiefen Überzeugung von der Notwendigkeit der europäischen Vereinigung beschränkte sich Kohl darauf, Meinungsverschiedenheiten zwischen den Mitgliedsländern durch großzügigen Einsatz des deutschen Scheckbuchs zu überbrücken, während Mitterrand eher durch mehr oder minder vornehme Zurückhaltung bestach. Ihren Nachfolgern, Gerhard Schröder als Bundeskanzler und Jacques Chirac als Präsidenten, sollte es unter dem Strich nicht anders ergehen – bis schließlich, mehr als zwanzig Jahre nach dem Beginn des europäischen Währungssystems und zehn Jahre nach der ersten Einführung des Euro als Buchgeld, der Ausbruch der weltweiten Finanzkrise und der nachfolgenden »Eurokrise« die Verantwortlichen endlich im Sinne des Wortes zu neuem Mut zwangen.
Auch hierauf werde ich zurückkommen. Hier geht es zunächst darum, daran zu erinnern, dass große Würfe der internationalen Politik jedenfalls in demokratisch getragenen Staaten regelmäßig lange Zeit brauchen, bevor sie die Chance haben, realisiert zu werden. In der Zwischenzeit kann viel geschehen. Die ursprünglichen Planungen können innen- oder außenpolitisch (oder beides zugleich) in den Strudel unvorhersehbarer Ereignisse geraten, die Wählerinnen und Wähler können sich durch ihre Stimmabgabe für gänzlich andere Wege oder Lösungen entscheiden, Hindernisse können sich herausstellen, an die anfänglich niemand gedacht hat, fehlerhafte Entscheidungen können getroffen werden, die korrigiert werden müssen. Insofern geht es denjenigen, die in politischer Verantwortung stehen, um keinen Deut anders als denjenigen, die für die strategische Ausrichtung von Wirtschaftsunternehmen verantwortlich sind – freilich mit einem entscheidenden Unterschied: Im zweiten Fall geht es zwar gleichfalls um Eingriffe in menschliche Schicksale, aber darüber hinaus betreffen unternehmerische Entscheidungen nur das wirtschaftliche Interesse der jeweiligen Eigentümer, im ersten Fall hingegen beziehen sich Grad und Ausmaß der jeweiligen Verantwortung auf das allgemeine Wohl.
Übrig bleibt immerhin eine Feststellung. Sie lautet, dass gerade wegen der unvermeidlich langen Wegstrecke und den dabei anfallenden »Mühen der Ebenen«, am Ende nur dann auf einen Erfolg gehofft werden darf, wenn dabei etwas zu neuem Leben erweckt wird, was über die Jahre hinweg in Vergessenheit geraten ist. Es muss gelingen, nicht nur eine kleine Gruppe von sozusagen »Eingeweihten«, sondern eine breite Mehrzahl von uns allen wieder davon zu überzeugen, dass es sich um ein Vorhaben handelt, das wohl mit Opfern verbunden sein wird, das aber, weil es im Interesse des Gemeinwohls liegt, trotzdem einen begeisterten Einsatz verdient.
KAPITEL VI
ALLE REDEN VON DER GLOBALISIERUNG, KEINER WILL SIE VERSTEHEN
Unser Thema ist, wie gesagt, schon unzählige Male durch die Mühlen der Analysen und Kommentare gemahlen worden. Dieses Buch erhebt keinen Anspruch, dem etwas grundlegend Neues hinzuzufügen. Vielmehr geht es um eine ganz einfache, schlichte Sorge – hinter der sich freilich eine Herausforderung verbirgt, wie es sie noch nie gegeben hat. Auf den Punkt gebracht: Wir leben nicht mehr, wie früher einmal, in einer kleinteilig zerstückelten Welt. Wie es sich gehört, gibt es auch dafür ein passendes Zitat von Goethe. Wollte man zu seiner Zeit ein Geschehnis kennzeichnen, das einen nicht unmittelbar berührte, sprach man von »weit hinten in der Türkei«. Seit dem Ende des sogenannten Kalten Krieges und dem durch das Internet gekennzeichneten Siegeszug der Digitalisierung ist die ganze Welt aber inzwischen, ob man es wahrhaben will oder nicht, tatsächlich zu einem Dorf zusammengewachsen – und es ist allerhöchste Zeit, dass wir uns klar machen, was das tatsächlich bedeutet, anstatt es kurzerhand zu verdrängen oder nur noch darüber nachzudenken, wenn sich überraschende Katastrophen – wie etwa das Reaktorunglück im japanischen Fukushima – ereignen.
Auch diese
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