Egorepublik Deutschland: Wie uns die Totengräber Europas in den Abgrund reißen (German Edition)
unverwechselbare Spuren hinterlassen hat. Mit Ausnahme von ihm hat es in der Zwischenzeit niemand verstanden, das Projekt der europäischen Einigung als Zukunftsideal im ständigen öffentlichen Gespräch zu halten, sich massiv dafür einzusetzen, deutlich zu machen, dass es für jeden einzelnen lebenswichtiger ist als die Höhe der Rente oder der Inflation. Womöglich fehlte über eine allzu lange Wegstrecke hinweg bei allen, die in den beteiligten Ländern politische Führungsverantwortung trugen, auch einfach das notwendige Gespür. Zumindest hat keiner mehr den Mut gehabt, sich den damit verbundenen Fragen in kontroverser Diskussion zu stellen, den eigenen Wahlerfolg damit zu verknüpfen. Niemand hat verstanden, wie wichtig die umfassende Mitwirkung eines direkt gewählten Parlaments gewesen wäre. Niemand hat es verständlich machen können, warum es zu keinem Zeitpunkt auch nur die Spur einer Chance gab, mit einem Paukenschlag alle Probleme endgültig aus der Welt zu schaffen – dass aber das ebenso langwierige wie unvermeidliche Bohren dicker Bretter nur dann zum Erfolg führen kann, wenn es getragen wird von einem klaren Blick der Wählerinnen und Wähler auf das angestrebte Ziel.
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Die alles in allem eben doch jammervolle Vorstellung der europäischen Staats- und Regierungschefs im Zusammenhang mit der sogenannten Eurokrise spricht Bände. Regelrecht üblich ist es inzwischen, eine entscheidende Ursache der Krise daran festzumachen, dass sich Griechenland seinerzeit seinen Beitritt zur Währungsunion mit falschen – um nicht zu sagen: gefälschten – Angaben erschlichen habe. Jede und jeder derjenigen, die heute politische Verantwortung tragen, pflegt – welcher Partei sie oder er auch immer angehören – zu beteuern, dass der Beitritt nie und nimmer zustande gekommen wäre, hätte man auch nur ahnen können, wie sehr man damals getäuscht wurde. Jeder Stammtisch weiß genau darüber Bescheid, ist felsenfest davon überzeugt, dass dies angesichts typischer griechischer Eigenschaften wie Faulheit und Verschwendungssucht auch überhaupt nicht verwundern kann. Ja, ich kenne sogar hoch angesehene Historiker, die ernsthaft meinen, dass es sich bei diesen Eigenheiten in Wirklichkeit um überkommene, sozusagen eingefleischte Erbschaften aus der allzu lange andauernden türkischen Herrschaftszeit handele. Dabei gerät die grundlegende Problematik, die sich hinter der jetzigen Krise verbirgt, tatsächlich erst dann ins rechte Licht, wenn wir uns die Vorgeschichte der Mitgliedschaft Griechenlands in der EU vor Augen halten. Sie geht – woran Reinhard Hillebrand in der Zeit Ende 2011 eindrucksvoll erinnert hat – bis ins 19. Jahrhundert zurück.
Das Königreich Griechenland, nach dem Ende der osmanisch-türkischen Herrschaft Anfang der 1830er Jahre ins Leben gerufen, hatte von Anfang an mit Problemen seines Staatshaushalts zu kämpfen. Kurz vor der Jahrhundertwende musste schließlich Konkurs angemeldet werden. Die Ursachen waren mannigfach. Verschwendungssucht zählte gewiss dazu. Doch viel tiefer reichten die Feststellungen eines durch Großbritannien entsandten Emissärs namens Edward Law. Vergleichbar mit der für die heutigen Euro-Staaten (und den IWF) arbeitenden »Troika« sollte er die Haushaltssituation überprüfen und Lösungsvorschläge erarbeiten. Nicht weniger unfreundlich wurde auch er damals in Athen empfangen. Seine Erkenntnisse hingegen kommen einem vor, als seien sie einem aktuellen Bericht ebendieser »Troika« entnommen. Nachdem er sich monatelang durch Berge von Akten gekämpft hatte, hob er (wie Hillebrand zitiert) mit deutlicher Verwunderung eine »unkonventionelle Buchführung der Behörden« hervor, »die manchmal das Haushaltsjahr mit 14 Monaten rechnen« – und dass »man unfähig sei, die Steuern einzutreiben«. Das freilich hatte nun wirklich nicht das Geringste mit der vorangegangenen osmanischen Herrschaft zu tun – sondern kennzeichnete einen Schlendrian, der durchaus denjenigen zuzurechnen war, die nach der Gründung der griechischen Monarchie das neue Staatswesen und seine Verwaltung ins Leben gerufen hatten: Es waren Beamte, die aus Deutschland, aus Bayern, stammten, an ihrer Spitze der Wittelsbacher König Otto I. (bald danach abgelöst durch dänische, also gleichfalls nordeuropäische Nachfolger).
Alles das hätte man wahrlich wissen können, wissen müssen, als das Land 1981 in die damalige EG aufgenommen wurde. Immerhin gab es ein vorgeschaltetes Prüfungsverfahren.
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