Egorepublik Deutschland: Wie uns die Totengräber Europas in den Abgrund reißen (German Edition)
jene schon mehrfach angesprochene Glaubwürdigkeit. Mit Sicherheit wird es eben nicht ausreichen, sich einzig und allein auf Beschwörungen sachlicher Notwendigkeiten zu verlassen und die Gefahren zu beschwören, die uns bevorstehen, wenn wir uns den vorgeschlagenen Lösungen verweigern sollten. Es geht um die Fähigkeit, die Frau und den Mann auf der Straße auch emotional zu überzeugen – und dies bedeutet, ihnen unmissverständlich und schnörkellos nahezubringen, dass hier nicht kurzfristige materielle Vorteile auf der Tagesordnung stehen, sondern die Zukunft ihrer Kinder und Kindeskinder. Um den modischen Sprachgebrauch unserer Intellektuellen zu missbrauchen: Es geht um ein überzeugendes »Narrativ«.
Etwas Weiteres kommt hinzu: Das Vorhaben wird misslingen, sollte sich nur eine kleine Minderzahl von europäischen Führungspersönlichkeiten finden lassen, die über solche Eigenschaften verfügen. Zwar müssen es umgekehrt keineswegs alle von ihnen sein – doch nur dann, wenn sich über die nationalen Grenzen hinweg eine Gruppe von Persönlichkeiten zusammenfindet, deren moralische und ethische Substanz unbezweifelbar ist, kann schließlich der entscheidende Schritt in eine gemeinsame Zukunft Europas gelingen. In der Vergangenheit hat es das durchaus gegeben: Nicht nur Maurice Schumann, Konrad Adenauer und Alcide De Gasperi zählten dazu, sondern genauso Helmut Schmidt, Giscard d’Estaing und Edward Heath (und zuletzt mit Sicherheit auch Helmut Kohl). Allesamt waren sie keine politischen Träumer, sondern durchaus Persönlichkeiten, die ihr Metier – einschließlich seiner nicht immer sympathischen Seiten – von der Pike auf gelernt hatten und beherrschten. Doch man nahm ihnen ab, dass es ihnen nicht um ihre parteipolitischen oder engen nationalen Interessen ging, dass ihr Handeln und ihre Entscheidungen letzten Endes glaubwürdig getragen waren von einer Vision der europäischen Gemeinsamkeit.
Bei allem Respekt vor ihrer Leistung als Buchhalterin und Sparkommissarin: Bundeskanzlerin Angela Merkel zählt leider nicht dazu.
KAPITEL XI
KEINE ANGST VOR EINER POLITIK DER ZWEI GESCHWINDIGKEITEN!
Eine übergroße Mehrzahl derjenigen, die von Berufs wegen das politische Geschehen in Europa beobachten, kommentieren oder begleiten, wird – ich weiß es wohl – den Ruf nach Persönlichkeiten, die unserer Beschreibung auch nur entfernt gerecht werden könnten, eher mit einem mitleidigen Lächeln aufnehmen. Durchaus berechtigt werden sie darauf hinweisen, wie komplex sich die allgemeinen Umstände entwickelt hätten. Fast liegt die Schlussfolgerung auf der Hand, dass es einem Wunder gleichkäme, wenn sich tatsächlich Menschen finden sollten, die fähig sind, vor einem solchen Hintergrund überzeugend den Weg zu weisen. Trotzdem: Vieles von dem, was hier zum Thema einer charismatischen Führungspersönlichkeit angemerkt wurde, konnte man vor gar nicht allzu langer Zeit durchaus an einem Namen festmachen.
Gemeint sind damit weder Jean Monnet noch einer der anderen »Gründerväter« der europäischen Vereinigung. Dafür, dass Monnet so erfolgreich europäische Geschichte schreiben konnte, gibt es – abgesehen von seinem persönlichen Genie – zwei Gründe: Zum einen half ihm der Zeitgeist, der bewirkte, dass die allenthalben lebendige Erinnerung an die Gräuel des Weltkriegs nach einer Vereinigung Europas rief, und zum anderen konnte er sich auf das Charisma so ungewöhnlicher Persönlichkeiten wie Konrad Adenauer oder Charles de Gaulle verlassen. Ein im Ergebnis ähnlicher Glücksfall ist Europa aber dennoch in einer späteren, mit entscheidenden weiteren Schritten verbundenen Entwicklungsphase noch ein weiteres Mal beschieden gewesen – und dieses Mal tatsächlich durch eine Persönlichkeit, die beides zugleich verkörperte: die Fähigkeit zur Durchsetzung kluger Kompromisse, verbunden mit der Überzeugungskraft, eine breite Öffentlichkeit für das europäische Ziel zu gewinnen. Sie trug erneut einen französischen Namen: Jacques Delors.
Zehn Jahre lang, von 1985 bis 1995, stand er als Präsident an der Spitze der Europäischen Kommission. Als er kam, galt er vielen außenstehenden Beobachtern als eher farbloser politischer Karrierist, zumindest aber als ein nüchterner, auf äußerste Sparsamkeit bedachter Verwalter der öffentlichen Finanzen. Er entstammte einem kleinbürgerlichen katholischen Elternhaus in der Provinz, dem man eher christliche und gewerkschaftsnahe Überzeugungen nachsagte. Für
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