Ehebrecher und andere Unschuldslaemmer - Roman
Einbrecher öffnete ich die Wohnzimmertür.
Ich hatte gehofft, meine Mutter alleine anzutreffen, ohne Zuschauer, die einen hilflos und voller Mitleid betrachten würden. Aber diese Hoffnung konnte ich gleich begraben. Papas Schwestern Patti und Ella saßen in der Essecke und blätterten in alten Fotoalben, Mamas jüngerer Bruder Harry unterhielt sich mit einem Mann im dunklen Anzug, den ich nicht kannte, und unsere Nachbarin Carola Heinzelmann arrangierte einen Strauß weißer Nelken in einer Blumenvase. Mein halbwüchsiger Cousin Philipp fläzte sich breitbeinig in einem Sessel herum und telefonierte mit seinem Handy. Ganz hinten auf dem Sofa saß meine Mutter, flankiert von Herrn und Frau Hagen, ebenfalls Nachbarn von uns. Meine Muttersah selbst auf diese Entfernung rotnasig und verquollen aus, wie jemand, der die Nacht in einem zu stark gechlorten Schwimmbad verbracht hat.
Es gab in unserem Haus nur drei Regeln, auf deren Einhaltung wir bisher eisern geachtet hatten. Die erste lautete: »Lass niemals die Hagens auf einem Möbelstück sitzen, das du noch nutzen willst.« Die Hagens waren nämlich so dick, dass mein Vater immer gesagt hatte, er warte nur auf den Tag, an dem sie mal gemeinsam auf ihrem Balkon stehen und damit in den Vorgarten hinunterkrachen würden. Jetzt saßen sie auf dem guten, noch ziemlich neuen Sofa, und zwar gleich alle beide!
Die zweite Regel lautete: »Rauchen ist nur auf der Terrasse erlaubt«, und meine Eltern hatten immer besonders energisch für die Einhaltung dieser Regel gesorgt. Es gab nicht mal einen Aschenbecher im Haus. Jetzt rauchten drei Leute, meine Tanten am Esstisch und mein Onkel, und nach der nebelverhangenen Zimmerluft zu schließen, taten sie das schon eine ganze Weile. Die Asche der Zigarette meines Onkels rieselte lautlos auf den Perserteppich.
Die dritte Regel in unserem Haus lautete: »Keiner darf auf Wanjas Sessel sitzen.« Wanja war unser alter Kater, der nirgendwo zu sehen war, vermutlich weil sein geliebter Schlafplatz von meinem Cousin Philipp besetzt war, der gut gelaunt mit seinem Handy plauderte.
Ein paar Sekunden blieb ich unbemerkt in der offenen Tür stehen und nahm all diese Regelbrüche in mich auf, dann verstummten die Gespräche, und die Blicke ruhten auf mir.
Ich rührte mich nicht von der Stelle. Tatsächlich wusste ich nicht recht, was von mir erwartet wurde.Durfte ich in Tränen ausbrechen und meiner Mutter in die Arme sinken, wie ich es mir seit 600 Kilometern gewünscht hatte, oder musste ich damit warten, höfliche Konversation betreiben und den Gästen Kaffee anbieten?
»Tag zusammen«, sagte ich nach gründlicher Überlegung.
Onkel Harry schlug mir krachend auf die Schulter. »Die Amelie braucht dich jetzt, Loretta.« Er hatte die unschöne Angewohnheit, mich bei allen möglichen Namen zu rufen, nur nicht bei meinem eigenen.
Tante Ella packte kurz meinen Oberarm. »Ein großes Unglück für uns alle, Kind.«
»Ich glaube, wir könnten jetzt erst mal einen Cognac gebrauchen«, sagte Tante Patti und drückte ihre Zigarette auf einer Untertasse aus.
Meine Mutter hinten auf der Couch hatte mich noch nicht bemerkt, sie saß apathisch da, eingezwängt zwischen den beiden Hagens, und bangte vermutlich nicht mal mehr um das gute Sofa.
»Gut, dass du da bist, Louisa«, sagte Carola Heinzelmann, die Nachbarin, und lächelte mich an. »Ich habe Kaffee gemacht und Schnittchen gebracht. Deine Mutter hat seit gestern weder gegessen noch getrunken. Wir müssen dafür sorgen, dass sie was zu sich nimmt.«
Ich nickte. Arme Mama.
Der unbekannte Mann im Anzug war, wie sich herausstellte, der Bestattungsunternehmer. Er räusperte sich.
»Sind – Sie – die – Tochter – des – Hauses?«, fragte er. Er machte zwischen jedem Wort eine so lange Pause, dass ich im ersten Augenblick dachte, er habe eineSprachbehinderung. In Wahrheit sprach er so langsam und bedeutungsvoll, weil er das Trauernden gegenüber für angemessen hielt. Menschen in dieser Situation waren wohl seiner Erfahrung nach nicht mit rascher Auffassungsgabe gesegnet. Jedenfalls erklärte er mir in diesem Tempo, dass der verehrte Verstorbene bei ihnen versorgt und aufgebahrt worden sei, dass aber noch einige Entscheidungen zu fällen seien, die meine Mutter nicht zu treffen in der Lage gewesen wäre.
»Und sicher wollen Sie sich auch noch einmal von Ihrem werten Herrn Vater verabschieden«, sagte er.
Ich schluckte.
»Sie müssen nur vorher anrufen, damit wir ihn für Sie aus der
Weitere Kostenlose Bücher