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Ehebrecher und andere Unschuldslaemmer - Roman

Ehebrecher und andere Unschuldslaemmer - Roman

Titel: Ehebrecher und andere Unschuldslaemmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Gier
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junge Mann.
    »Nee, Kalinke gibt es nicht.« Dann begriff ich, dass er sich selber meinte. »Ach so. Freut mich.«
    »Meine Mutter wohnt seit ungefähr einem Jahr in Jahnsberg«, erklärte der Anhalter. »Lydia Kalinke. Vielleicht kennst du sie. Rote Haare.«
    »Ich bin immer nur an Weihnachten und so zu Hause«, sagte ich und hatte auf einmal wieder diesen Kloß im Hals. »Es ist so weit von Berlin, zu weit, um mal eben kurz vorbeizukommen.«
    Mein Beifahrer blickte über die hügeligen Kuhweiden, die links und rechts der Straße vorbeizogen. »Hast du denn nie Heimweh?«
    »Nach Jahnsberg hat man doch kein Heimweh«, wollte ich sagen, aber gerade jetzt überwältigte mich die Sehnsucht so heftig, dass ich nicht sprechen konnte. Sehnsucht nach unserer Straße mit der alten Kastanie an der Ecke, nach unserem Haus mit den dunkelbraunen Schlagläden und nach der weichen, wohlduftenden Umarmung meiner Mama. Und nach meinem Papa, dem ich die Geschichte vom weißen Teströhrchen in der Bulette nun nicht mehr würde erzählen können. Ich war mir nicht sicher, ob er darüber gelacht hätte, aber ganz bestimmt hätte er am Ende jenen beruhigenden Satz ausgesprochen, den er immer bereithielt, wenn es schwierig wurde: »Es gibt kein Problem, für das es nicht auch eine Lösung gibt.«
    Die Straße verschwamm vor meinen Augen.
    »Entschuldigung«, murmelte der Anhalter. »Ich wusste nicht, dass du so sehr an deiner Heimat hängst.«
    »Tu ich auch nicht«, sagte ich. »Mein Vater ist gestern gestorben.«
    »Ach so«, sagte der Anhalter. Man konnte nicht hören, ob er betroffen oder nur peinlich berührt war.
    »Er ist beim Joggen tot umgefallen. Herzinfarkt«, sagte ich und zog heftig die Nase hoch. »Entschuldigung.«
    »Ist schon gut«, sagte der Anhalter. »Ich find’s ja im Grunde richtig, dass du darüber weinst. Wenn mein Alter abkratzen würde, würde ich mich freuen. Obwohl er definitiv nichts zu vererben hat. Sogar sein Auto ist nur geleast.«
    Wir passierten soeben das gelbe Ortsschild von Jahnsberg. Gleich dahinter an der Bushaltestelle stand immer noch das kleine Holzkreuz, vor dem stets ein frischer Blumenstrauß im Gras lag.
    »Frau Schlürscheids Benjamin«, erklärte ich und zeigte auf das Kreuz.
    Der Anhalter schluckte. »Überfahren?«
    »Jawohl. Obwohl er an der Leine war.« An seinem Gesichtsausdruck erkannte ich, dass der Anhalter Benjamin für ein Kind und nicht für einen Rehpinscher gehalten hatte. Ich lächelte. »Wo genau musst du jetzt hin?«
    Der junge Mann holte einen Zettel aus seiner Tasche. »Ibbenbusch vierundzwanzig. Weißt du, wo das ist?«
    »Natürlich in Ibbenbusch«, sagte ich überlegen und setzte den Blinker. »Wenigstens was die Straßennamen angeht, herrscht in dieser Gemeinde eine unbestechliche Logik.«
    »Ist das auch kein Umweg?«
    »Doch. Ein kleiner Umweg. Aber es macht mir nichts aus.« So kurz vor dem Ziel ging es mir schon besser. In wenigen Minuten würde ich mich in Mamas Arme werfen, und wir würden uns gegenseitig trösten.
    »Hoffentlich ist meine Mutter auch zu Hause«, sagte der Anhalter. »Sie weiß gar nicht, dass ich komme.«
    »Seht ihr euch so selten?«
    »Kann man sagen, ja. Ich war zwei Jahre im K … im Kongo.«
    »Ach, tatsächlich? Wie spannend.« Ich warf ihm einen Seitenblick zu. Komisch, diese Rothaarigen, die konnten jahrelang im tiefsten Afrika wohnen und sahen immer noch käsig aus. »Was hast du da gemacht?«
    »Ich habe als Entwicklungshelfer gearbeitet. Wasserleitungen zur Bewässerung der Wüste gebaut und so was.«
    »Hier ist Nummer vierundzwanzig«, sagte ich und kam nicht mehr dazu, darüber nachzudenken, ob es im Kongo eine Wüste gab oder nicht. »Schönes Haus.«
    »Ja«, sagte der Anhalter zufrieden. »Schön groß.« Als er ausstieg, sah ich, dass sich das rote Gummibärchen an seinem Hintern festgeklebt hatte. »Herzlichen Dank fürs Bringen. Bei Gelegenheit werde ich mich revanchieren.«
    »Nicht nötig«, sagte ich herzlich, nicht ahnend, dass ein Kalinke grundsätzlich hielt, was er versprach – ob man wollte oder nicht. »Und viel ähm … alles Gute wegen deines Vaters. Auf Wiedersehen.«
    »Wiedersehen.« Ich wartete, bis er die Tür zugeschlagen hatte, und gab Gas. Das Gummibärchen würde schon von allein abfallen.

    Zum ersten Mal in meinem Leben roch es bei uns zu Hause nicht nach leckerem Essen oder frisch gebackenem Kuchen, als ich ankam. Während ich aufschloss, hörte ich Stimmen aus dem Wohnzimmer. Ganz leise wie ein

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