Ehen in Philippsburg
Beweisführungen. Ich bin froh, daß es keine Granate, sondern eine Straßenbahn war, eine vorsichtige, alte Straßenbahn, die mir ganz langsam übers Knie fuhr, so, als wollte sie mich schonen. Mein Chef kann mir das nie verzeihen. Er fordert von seinen Angestellten eine andere Vergangenheit. Nicht umsonst trägt er zu jeder Jahreszeit hohe schwarze Schnürschuhe und sagt fast täglich, Deutschland sei das Herz Europas. Am Schreibtisch beginnt das Vaterland, sagt er und läßt dabei die goldene Uhrkette, die quer über seinen Bauch hängt, durch seine blauroten Hände gleiten. Diese Hände häuten sich des öfteren, dann sind die Handrücken fahl gesprenkelt.
Ich darf meinem Chef nicht sagen, was ich über ihn denke. Und ich denke oft über ihn nach, wenn ich in der Pforte sitze und auf Besuch warte. Ich bin feige. Jawohl, ein Feigling. Nur hin mit diesem Wort. Acht Buchstaben auf Papier. Ich bin ein Feigling. Ich sage keinem Menschen, was ich denke. Mein Bein habe ich durch eine blecherne Straßenbahn verloren, darum bin ich auch in den Augen meines Chefs ein Feigling. Aber wenn er erst wüßte, was ich für ein Feigling bin, wahrscheinlich würde er es gar nicht ganz begreifen, aber wenn… mit eigenen Händen würde er mich hinauswerfen. Wehe dem Betriebsrat, der sich einmischen würde! Aber das würde der Betriebsrat auch gar nicht tun. Der weiß, was er dem Chef schuldig ist. Wahrscheinlich sind es kindische Wünsche, aber sie beherrschen mich, ich möchte am hellen Vormittag die Pforte verlassen, in das Zimmer des Chefs eindringen und dem Besucher, der sich gerade im Sessel rekelt, endlich einmal die Wahrheit sagen über diesen Betrieb. Der Besucher würde es zwar abwehren, auch nur eine Minute solche Dinge anzuhören, aber insgeheim müßte er doch zeit seines Lebens an diese Sekunde denken, da er unverdient und plötzlich von der Wahrheit betroffen wurde. Ist es die Wahrheit? Sicher nicht. Ich liebe meinen Chef nicht. Was hat das mit der Wahrheit zu tun? Keiner ist weiter von der Wahrheit als einer, der haßt. Bitte, hört sich an wie ein Zitat.
Hildegard schläft. Sie kann nicht verstehen, warum ich am Tisch sitzen bleibe. Bevor sie einschlief, hat sie vom Bett aus hergesehen. Ich nahm einen Bleistift und tat, als hätte ich Wichtiges zu notieren. Aber ich malte nur Worte (um mich vor ihr zu schützen, ich wollte nicht mehr sprechen, nicht mehr lügen). Ich malte: Nasse Straße, Himmelsschwärze und ein ängstlich flackerndes Verkehrslicht, Baustelle, Nacht, und in den Wohnungen geht es weiter, große Trennungen in allen Zimmern, aber man wohnt weiter zusammen, und der Gasmann hält sie alle für Familien, Mücken sterben an Menschen, Menschen sterben an Mücken, »zahlenmäßig erfaßbar…«!
Gott sei Dank schläft sie jetzt. Sie ist für Gespräche. Liest gute Bücher und glaubt an die Sonntagvormittage zu allen Jahreszeiten! Mitteilung alles Inneren hält sie für möglich. Sie weiß nicht, daß ich ihr nie sage, was ich denke. Wenn ich es sagte, wäre unsere Ehe erledigt. Ich bin nicht der Gasmann. Der liest ab und sagt: Diese Familie lebt gut. »Zahlenmäßig erfaßbar.« Wenn wir sprechen, drehen wir das Radio laut auf. Färbers hatten kein Geld, um dicke Wände zu bauen. Am besten ist es, wenn Musik kommt. Sobald gesprochen wird, kriege ich Herzklopfen. Heute hatten wir das Radio auf Rom gestellt. Wir wechselten ein paar Worte unter dem schönen Mantel des Italienischen. Aber mit einem Mal wurde die gleitende Sprache zerrissen: Molotow, Eisenhower, Tito, John Foster Dulles. Da hilft auch das Italienische nichts mehr. Ich halte es nicht aus bei Hildegard im Bett, wenn solche Namen ms Zimmer brechen.
»Was haben Sie eigentlich gedacht in diesem Augenblick, was? Können Sie mir das sagen?« Der Chef warf bei diesem Satz gleichzeitig in einer großen Drehung seinen Körper um einhundertachtzig Grad herum, zerrte sein Gesicht in die Breite und streckte seine Finger in zehn verschiedenen Richtungen sperrig in die Luft. Das kann er. Ich überlegte, ob ich aus diesen Gebärden entnehmen sollte, daß ihm wirklich so viel daran gelegen war, zu erfahren, warum ich das Läuten des Telephons überhört hatte, oder ob er lediglich die Gelegenheit benutzte, verschiedene Bewegungen zu üben, die er in allernächster Zeit für bedeutendere Zwecke einsetzen wollte. Ich entschloß mich, anzunehmen, daß es sich hier lediglich um eine Übung gewaltiger Bewegungen und Gebärden handeln könne, und lächelte.
Weitere Kostenlose Bücher