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Ehen in Philippsburg

Ehen in Philippsburg

Titel: Ehen in Philippsburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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den ersten Reihen ganz weg- und ganz dem Begrüßungsredner zugewandt. Seine Haltung war pure Aufmerksamkeit. Weit ragte das Kinn vom Hals weg (und das will etwas heißen bei seinem Hals, der doch eigentlich gar keiner ist) zum Rednerpult hinauf. Es war, als wolle er dem Saal ein Beispiel zuhörender Andacht geben. Es lag darin die Empfehlung, die Anwesenden möchten sich nachher, wenn er selbst das Wort ergriffen haben würde, ebenso ungeheuer aufmerksam gebärden.
     Da der Begrüßungsredner meinen Chef mit vielen Redewendungen lobte, war es nicht verwunderlich (oder doch!), daß der den allgemeinen Beifall, den der einleitende Redner der Gewohnheit gemäß erntete, mit weit ausholenden Händen vermehrte, so dem ganzen Saal zeigend, welche Vorstellung er von Beifall habe. Dann ging er hinauf. Musterte den Saal. Legte seine Hände fast segnend auf das Rednerpult. Trat so weit zurück, daß seine Arme ganz ausgestreckt waren. Es war wieder still geworden im Saal. Aber Mauthusius sprach noch lange nicht. Er ließ die Stille wachsen. Und er wußte offensichtlich ganz genau, wie gewaltig eine schon vollkommene Stille noch wachsen kann. Ins Ungeheure wuchs sie, drohte zu bersten, lautloses Getöse zu werden, da setzte er ein. Wie klug hatte er den Augenblick gewählt! Jeder empfand sein erstes Wort als eine große Erlösung. »Die Stunde der Entscheidung, das ist das Thema meines Vortrags.« Wieder ließ er Stille aufbrechen im Saal, aber er ließ sie nicht mehr dauern. Harte Sätze peitschte er jetzt in rascher Folge auf die schon ganz benommenen Zuhörer hinab. Sätze wie Windstöße, die Steine mit sich führen. Die Zuhörer mußte sich selig preisen, daß diese Sätze nicht ihnen, sondern den Feinden der Partei galten.
     Mit Befriedigung stellte ich fest, daß der Chef damals, als er mich in sein Zimmer gerufen hatte, doch geübt hatte an mir. Er mußte allerdings noch nächtelang weitergeübt haben, denn alle Gebärden, die er damals vor mir produziert hatte, ließ er nun im Zustand wirklicher Vollkommenheit in den Saal hineinspielen. Alle überhaupt einsatzfähigen Partien seines Körpers funktionierten jetzt zusammen. Die Zuhörer mußten den Eindruck haben, daß dieser Mann unter den bösen Erscheinungen unserer Zeit in einem schrecklichen Ausmaß zu leiden imstande war. Wenn er von der »Schwere unserer Zeit« sprach, fielen seine Schultern so erbärmlich nach unten, daß man aufspringen und ihn stützen wollte. Aber wenn er dann – und das tat er nach jedem negativ zu bewertenden Punkt – Trost auffahren ließ, dann füllten sich seine Lungen, und der Brustkorb schwoll an, daß man für die Weste fürchtete, Trost, Trost blühte auf aus seiner Gestalt, Hoffnung hob ihn schier vom Boden, und wenn er sich nicht – sich ganz zum Irdischen bekennend – am hölzernen Rednerpult festgehalten hätte, wer weiß, ob er uns nicht einfach weggeschwebt wäre.
     Bald hatte er alle Feinde kurz und klein geredet und hatte gleichzeitig unwiderlegbar dargetan, daß nur noch von seiner Partei das Heil kommen konnte. Jeder Zuhörer, der dieser Partei noch nicht beigetreten war, muß sich in dieser Stunde ernstliche Vorwürfe gemacht haben. Auch ich. Und noch hatten wir das Finale nicht erlebt. Es begann damit, daß er uns zurief, wir müßten uns »innerlich wappnen!« Jetzt gehe es – und sein Ausdruck wurde furchtbar – »hart auf hart«. Ich war so hingenommen, daß ich im Augenblick nicht wußte, wer oder was »hart auf hart« gehe, und ich bin auch durch nachträgliche Überlegung nicht mehr bis zu dem Sinn dieser Ausdrucksweise vorgedrungen, aber daß damit Waffen gemeint waren, scheint mir sicher zu sein. Darin bestätigt mich jener Satz aus dem Finale, der mir wörtlich in den Ohren liegen blieb. »Der unerbittliche Kampf der geistigen Waffen, getragen von der Allmacht der Liebe, wird den Sieg auf unsere Fahnen senken.« Ich bekam Herzklopfen, als ich diesen Satz hörte. Die letzten Sätze seiner Rede schleuderte mein Chef übrigens mit erhobenen Händen auf uns herab. Immer höher wuchsen diese Hände, man wußte nicht mehr, woher er diese Größe nahm (nachträglich vermute ich, daß er sich zuvor langsam und unmerklich zusammengeduckt hatte), und mit ihm wuchsen seine Sätze, wuchsen zu einem nicht mehr zu überbietenden Höhepunkt (ein allzu bescheidenes Wort für eine solche Aufgipfelung), und dann fielen die Hände herab und es war eine gewaltige Stille im Saal.
     Später brach Beifall los. Der Chef

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