Ehen in Philippsburg
spaltbreit geöffnete Zimmertür. Ihr Mann soll operiert werden. Sie ist sehr stolz darauf, daß der Professor selbst die Operation vornehmen will. Als Hildegard kam, drängte ich Frau Färber langsam in den Flur zurück. Dann kam noch Maria Sporer, die Tochter des Altwarenhändlers von nebenan. Sie hat Nähen gelernt. Hildegard hatte eine Bluse bestellt. Schüchtern zieht sie die Bluse aus dem Papier. Anstandshalber schaue ich erst wieder hin, nachdem Hildegard die Bluse schon angezogen hat. Hildegard ist zufrieden. Eigentlich könnte Maria jetzt gehen. Das Geld hat sie bekommen. Aber auch sie hat viel zu erzählen. Sie ist gar nicht zufrieden. Nähen hat sie gelernt, und jetzt sitzt sie zu Hause, um den Haushalt zu machen für die riesige Familie. Fünf Kinder sind es auf Nr. 24. Der älteste Bruder kommt mit dem Vater nicht aus. Er will eine eigene Firma aufmachen und nur noch Altmetall handeln. Der Vater aber bleibt, wie es auf dem Blechschild heißt, bei Eisen, Metallen, Lumpen, Gummi, Papier. Der älteste Bruder schwört auf Blei. Er hat ein paar Arbeiter von der Bundesbahn hinter sich. Die schlachten die großen Akkus der Triebwagen aus. Alles hänge von der Schnelligkeit ab, sagt Maria, da die Polizei oft Stichproben mache. Man sei ja verpflichtet, Buch zu führen über jeden An- und Verkauf. Vom Verkäufer müsse man, so laute die Vorschrift, sogar die Kennkarte verlangen. Das sei natürlich unmöglich! Der Vater bringe es nie zu was. Der sei so zimperlich. Ihr Bruder dagegen sei fast zu kühn, deshalb stehe er auch immer mit einem Fuß im Gefängnis.
»Man kann halt von dem, was die kleinen Leute aus den Ruinen graben, nur kümmerlich leben. Der Bruder aber will einen Schnellastwagen anschaffen! Der Vater kauft eben, was er so kriegt.«
Maria sagt, immer mehr Mütter schickten jetzt allmählich ihre Kinder zum Sammeln. Für kinderreiche Familien sei das ein guter Nebenverdienst. Der Vater verkaufe das alte Eisen an den Großhändler, der verkaufe es an den Exporteur, der an den Importeur, und der an einen Aufkäufer und der an einen Konzern. Zuletzt werde aus dem alten Eisen, an dem die kleinen Leute wenig und die großen Leute viel verdient hätten, eben doch wieder Kriegsmaterial. Aber daran könnten die Mütter nicht denken. Für sie sei es ein guter Nebenverdienst.
»Man kommt zu nichts«, sagte Maria immer wieder. Jetzt hätten sie den Stiefvater der Mutter aufnehmen müssen, und mit Annas Augenkrankheit werde es auch immer schlimmer. Sie gehe jetzt schon in die Blindenschule, obwohl sie noch ein bißchen sehe, die Umstellung werde ihr dann nicht ganz so schwer fallen. Gestern sei sie dreizehn geworden. »Mit der Mutter ist es auch so was«, sagt Maria, die nicht mehr zu halten ist. »Sie liest den ganzen Tag. Die Hausarbeit bleibt liegen oder muß von mir getan werden. Die Mutter war doch früher bei den Kommunisten. Jetzt liest sie nur noch Romane. Der Vater hat keinen Einfluß auf sie. Ja, und die zwei jüngsten Schwestern sind sechs und acht, die machen auch bloß Arbeit, und der älteste Bruder will bald heiraten, jetzt sollen wir noch enger zusammenrücken, daß er mit seiner Frau, sie ist achtzehn, ein Zimmer für sich hat.«
Das müsse man auch verstehen, sagt Maria und schaut vor sich hin. Ihre Hände sind rot. Wahrscheinlich fühlen sie sich rauh an. Dann geht Maria, sie ist froh, daß sie mit uns sprechen konnte. Hildegard legt sich schlafen. Ich muß versprechen, gleich zu kommen. Ich verspreche es. Sitze aber noch lange am Tisch. Ja, der Altmetallhandel, denke ich. Und im Radio hetzt eine dünne Stimme gegen Asien. Im Jahr 1944 ist es mir zum erstenmal aufgefallen, daß ich für diese Zeit nicht tauge. Mein Bruder war neunzehn und Unteroffizier. Er fiel. Ostfront nannte man damals die Landschaft, in der es passierte. Später kamen zwei Herren, die sagten, sie seien »Kameraden« meines Bruders. Er sei zu weit vorgefahren, sagten sie. In Nyerigihaza, in Ungarn. Als sein Panzer habe drehen wollen, oder als mein Bruder gerade das Kommando zum Drehen gab, oder als der Fahrer… oder… das wußten die »Kameraden« nicht genau: auf jeden Fall sei »das Fahrzeug« meines Bruders »abgeschossen« worden. Kunststück, sagten sie, aus hundertfünfzig Meter Entfernung! Dann sagte der eine, er studierte jetzt Jus, der andere, sagte, er sei Mechaniker.
Meine Mutter weinte natürlich. Ich sagte, da könne man nichts machen. Das sagte ich erst, als die »Kameraden« nichts mehr von sich
Weitere Kostenlose Bücher