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Ehen in Philippsburg

Ehen in Philippsburg

Titel: Ehen in Philippsburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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verharrte zusammengekrümmt am Rednerpult und ließ uns spüren, daß er diese tumultuarische Zustimmung nur widerwillig über sich ergehen ließ. Als er zufällig einmal zu mir herschaute, wuchs auch ich ihm beifallstoll entgegen. Mit heißen Händen verließ ich den Saal. Schon unter der Tür, sah ich noch Herrn Birkel: er war zur Bühne gestürmt, mit seinem gesunden Bein auf einen Stuhl gesprungen und stand nun, weithin glänzende Tränen im Gesicht, und schlug seine großen Hände in deutlichem Sondertakt dröhnend gegeneinander. Sein Mund zuckte unheimlich rasch auf und zu und entließ dabei jedesmal ein erschütterndes Bravo. Das zu überbieten, würde mir nie gelingen.

    Es geht schon auf Mitte Januar zu. Die Weihnachts- und Neujahrsbotschaften sind endgültig vergessen. Wohin verschwinden bloß die Millionen Zeitungen? Zwei, drei Tage nach ihrem Erscheinen findet man keine mehr. Jetzt trägt die Rote Armee ihre Winterausrüstung. Die Pelzmützen…

    Hildegard war heute vor mir zu Hause. Sie empfing mich mit einem Brief meines Vaters und las ihn auch gleich eifrig vor (mit Betonungen, wie man sie bei schlechten Schauspielerinnen hört): der Landgerichtsrat ist mit mir nicht zufrieden. Das wußte ich. Warum schreibt er wieder, er hatte mich doch aufgegeben. Das Vaterherz! Ich kann ihm nicht helfen. Zu dem, was er einen »Beruf« nennen würde, habe ich keine Anlage, keine Kraft. Ich müsse doch an meine Familie denken. (Hildegard hob, als sie das vorlas, ihre Stimme fest an.) Ja, daß ich geheiratet habe, das kann man mir vorwerfen. Das durfte ich nicht. Ich hatte gehofft, die Ehe werde in mir Lust am Vorwärtskommen erwecken, Freude an der Verantwortung, überhaupt Lebensfreude. Hatte nicht jeder, der mich kannte, gesagt: das gibt sich alles, wenn Sie erst einmal verheiratet sind! Ich hatte geheiratet. Hildegard bediente in der Buchhandlung, in der ich Zeitschriften und Bücher durchsehen konnte, ohne sie kaufen zu müssen. Außer Hildegard kannte ich kaum Mädchen. Also heiratete ich Hildegard. Sie hielt mich für einen Schriftsteller mit großer Zukunft. Wir wurden beide enttäuscht. Ich wurde kein großer Schriftsteller, und sie vermochte in mir kein Interesse für das Vorwärtskommen zu erwecken.
     Hildegard sagte, als sie den Brief vorgelesen hatte: »In diesem Zimmer können wir nicht ewig bleiben.« Ich zuckte mit den Schultern. Das Zimmer liegt im zweiten Stock, der zweite Stock ist in den Häusern dieser Straße allerdings eine Art Dachboden. Es gibt hier eigentlich auch gar keine Häuser (so gerne auch Frau Färber von ihrem »Haus« spricht). Die ganze Straße ist ein einziges Haus. Unser Zimmer ist durch den Eingang Nr. 22 zu erreichen. Hildegard meinte, da ich jetzt ja eine feste Stelle hätte, könnten wir uns eine richtige Wohnung suchen. Ich erinnerte sie daran, daß ich nur auf Probe eingestellt worden sei, eine Spielzeit lang. Mehr sagte ich nicht. Sie versuchte wieder, ein Gespräch über unsere Ehe in Gang zu bringen. Ob ich sie liebte? Ich sagte: Ja. Ob ich es bereute, daß ich sie geheiratet hätte? Ich sagte: Nein. So ging es weiter. Ich wage ihr nicht zu sagen, daß ich von mir enttäuscht bin, mehr als von ihr. Lieben, an einem zweiten Menschen das gleiche Interesse nehmen wie an sich selbst, das kann ich nicht. Manchmal stelle ich mir vor, daß es schön wäre, ein Mann zu sein, der »vorwärts« kommen will, der seine Frau »hebt«, Kinder will und in seiner Familie aufgeht. Aber ich darf diesem Wunsch nicht nachgeben. Das ist der Wunsch, ein anderer zu sein. Wenn ich mich ganz von diesem Wunsch durchdringen lasse, muß ich aufhören zu leben, denn ich habe keine Kraft, jener andere zu werden. Also ist der Wunsch, ein anderer zu werden, eine Versuchung, sich umzubringen…

    Mein Chef blieb heute am Schalter stehen, als er ins Haus kam, und fragte Belangloses. Er wartete darauf, daß ich etwas über den Vortrag sägen würde, ich sah es ihm an. Ich nestelte in Papieren. Wie sollte ich anfangen? Meine Lippen klebten aufeinander. Ich sah schräg hinauf durchs Schalterfenster, begegnete dem ungeduldigen Blick des Chefs, wollte die trägen Lippen endlich auseinanderreißen, da hatte er sich schon umgedreht. Kopfschüttelnd und vor sich hin pfeifend stapfte er die Treppe hinauf in sein Büro. Ich hatte noch einige Zeit zu tun, die Briefe zu glätten, die ich, während ich den Chef angeschaut hatte, ohne etwas sagen zu können, arg zugerichtet hatte.

    Frau Färber sprach durch die

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