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Ehen in Philippsburg

Ehen in Philippsburg

Titel: Ehen in Philippsburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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einer wildgewordenen Kindereisenbahn, die in tödlichem Tempo auf dem viel zu engen Schienenkreis herumjagt.

    Heute ließ mich der Chef rufen. Ich trat ein, legte ruhig den Weg über den großen Teppich zurück. Er sah mich an. »Sie gefallen mir nicht… mehr«, sagte er. Das letzte Wort hängte er nachträglich an. Ich sah auf die von keinem Stäubchen getrübte Schreibtischplatte. »Was wollen Sie eigentlich werden?« fragte er dann. Ich sagte nichts, denn ich spürte, daß er gar keine Antwort erwartete. Er holte Luft. »Sie sind ein junger Mensch und sitzen an der Pforte herum. Das ist was für Veteranen. Nicht für Sie.« Ich sagte nichts.
     Er fuhr fort: »Ich weiß schon, daß Sie mit mir nicht zufrieden sind. Aber ich sage Ihnen: ich mit Ihnen auch nicht! Ich ertrage es nicht länger, jeden Tag durch Ihre hochmütigen Blicke zu marschieren, mit denen Sie den Weg verbarrikadieren. Ich weiß, was Sie über mich denken. Und ich halte es für ein Verbrechen, einen Mann mit Staatsgeldern zu bezahlen, der an diesem Staat so wenig interessiert ist wie Sie.« Ich nickte. Er verstand meine Zustimmung falsch. Sie war ehrlich gemeint. Am nächsten Ersten könne ich gehen. Das Ende der Probezeit müsse gar nicht mehr abgewartet werden. Der Intendant, der Oberspielleiter und er seien sich einig, sie hätten es satt, sich täglich von mir mustern zu lassen, als sei ich ihnen zum Richter bestellt. Überhaupt könne man keinen Mann an der Pforte beschäftigen, dem eine Straßenbahn den Fuß abgefahren habe, eine Klingelingestraßenbahn, einen Mann, dem seine Frau weggelaufen sei, jawohl, er wisse Bescheid, und daß ich’s nur wisse, das Mitleid mit dieser Frau habe ihn bisher immer noch abgehalten, mir zu kündigen, eine Familie müsse eben existieren, aber jetzt, jetzt habe es sich ja gezeigt, daß es bei mir auch keine Frau aushalten könne. Ich sah ihn jetzt an und sagte: »Jawohl, Herr Direktor.« Dann legte ich den Weg über den großen Teppich wieder zurück, ging hinaus, kramte meine Blei stifte zusammen, leerte meine Schublade sorgfältig in den Papierkorb und verließ das Haus. In den Parkanlagen vor dem Theater stritten sich Kinder. Ein hübscher, schlankgewachsener Junge schlug einem kleineren dreckigen Kind mit der Faust ins Gesicht. Das Kind blutete. Ich ging rasch vorbei.
    Gott ist unvorstellbar…

    Traum der letzten Nacht: Ich stand unter einer weit überhängenden Felswand. Leute von der Straße riefen mir zu, ich müsse mich sofort in Sicherheit bringen, die Wand stürze gleich ein. Ich rief zurück: Wenn ich weglaufe stürzt sie ein, ich stütze sie ja.
    Das Mittelmeer muß schön sein. Aber zur Zeit üben dort Panzerkreuzer, die aus Amerika gekommen sind. Die VI. Flotte. Das Wetter ändert sich. Ich stelle meine Prothese von rechts nach links, kratze den Stumpf, der unterm Knie aufhört, bewege mit Sehnen und Nerven die nicht mehr vorhandenen Zehen. Zum Verrücktwerden.

    2

    Hans Beumann sah einen Augenblick von der schwer lesbaren Handschrift auf. Sofort verschwammen die Zeilen zu einem abweisenden Gestrüpp, in das noch einmal einzudringen er keine Kraft mehr hatte. Für wen war das alles aufgeschrieben worden? Er blätterte weiter. Auf allen Seiten – und das Heft war nahezu vollgeschrieben – lag das gleiche wirre Netz, gehäkelt aus schwer erkennbaren Buchstaben. Wenn Hans einen Brief schrieb oder sich etwas in seinen Kalender notierte – einen Satz, den er in einem Artikel verwenden wollte, ein Thema oder auch nur einen Termin –, malte er jeden Buchstaben überdeutlich aufs Papier. Er bewunderte Leute, die Briefe in unleserlicher Schrift abzuschicken wagten, die vom Empfänger forderten, daß er den Brief mit Andacht auseinanderfalte, ihn gar vor sich auf den Boden lege, mit beiden Knien die Ecken beschwere, um sich dann weit vorzubeugen und mit schmerzlicher Anstrengung Wort für Wort aus dem Gestrüpp herauszulesen. Für ihn erhielten die Aufzeichnungen Berthold Klaffs schon eine gewisse Glaubwürdigkeit, bloß weil sie so undeutlich, in einer jeden Leser feindlich abweisenden Schrift geschrieben waren. Oder war das eine höhere Koketterie, ein Hochmut, der sich allem Verständnis entzog? Aber Klaff war tot. Ein Selbstmord, eine für Hans unvorstellbare Tat, war das nicht eine nachträgliche Legitimation für alles, was Klaff gedacht oder getan hatte? Konnte man das Leben ernster nehmen? Oder war sogar dieser Selbstmord eine hochmütige Geste? Hans verlor den Grund unter den Füßen.

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