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Ehen in Philippsburg

Ehen in Philippsburg

Titel: Ehen in Philippsburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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gaben und nur noch meiner Mutter beim Weinen zuschauten. Es sei bloß gut, daß mein Bruder noch nicht verheiratet gewesen sei, sagten sie dann, bei Verheirateten sei es am schlimmsten. Meine Mutter sah sie ungläubig an.
     Mir ist damals aufgefallen, daß ich nicht den Mut gehabt hätte, in eine solche Ortschaft hineinzufahren. Überhaupt in ein solches »Fahrzeug« einzusteigen! Als der Krieg zu Ende war, freute ich mich. Den Besatzungstruppen bin ich immer aus dem Weg gegangen. Nur keine Herausforderung, dachte ich. Das sind jetzt die Herren. Mildere Herren als ihre Vorgänger! Das waren schöne Jahre nach dem Krieg. Ich ging vom Trottoir, wenn Soldaten kamen. Sie lächelten geschmeichelt. Einmal spuckte einer nach mir. Was schadet das! Kugeln sind schlimmer. Jetzt ist es wieder wie im Krieg. Zwei Welthälften geben täglich viel Geld aus, mir zu beweisen, daß ich nicht tauge. Ein Feigling ist man nicht bloß, weil man keinen Mut hat, sondern weil man nicht mitmacht! Mitmachen muß man! Entscheiden muß man sich! Und eben dazu bin ich unfähig. Ich will überleben, nichts weiter. Arm, von mir aus. Elend, von mir aus. Aber atmen. Wozu? Das weiß ich nicht. Aber atmen.
     Im Radio sprach gestern ein beweglicher Mann aus Syrien. Er hatte viel zu rühmen. Achtmal soviel Baumwolle als was weiß ich wann und fünfmal soviel Reifezeugnisse und viel Literatur und Begeisterung und Chemie. Den Deutschen bot er Freundschaft an, kehlig und heiß. Zum Euphrat lädt er ein, um der Stadt Aleppo das Wasser immer noch reiner zu machen. Nur dürften wir ja nichts mehr nach Israel liefern. Alles nach Syrien. Alles in die arabische Welt. Europäische Segnungen wollen sie und sind so zufrieden mit der ersten Lieferung Hornbrillen. Der Tod gilt nichts, das ist ein Pflasterstein, ein kleiner Einzeltod, eine Stufe nach oben! Opfer, uniformierte Weihestunden und hündisches Getrete endloser Paraden, die sich vor dem Spind in Schweiß und Fluchen verwandeln. Bei uns geht das nicht mehr. Versucht wird’s immer noch.
     Bei uns ist der kleine Einzeltod alles. Es gibt keinen Tod für etwas, weil dieses Etwas ein Schwindel ist, wenn es auch schon ein paar tausend Jahre alt ist. Ich bleibe am Tisch sitzen. Was mich befällt, wenn ich die Augen schließe, ist doch kein Schlaf. Träume sind es, schlimmer als Gedanken. Und am Ende halte ich es auch am Tisch nicht mehr aus. Eine Nacht ist zu lang. Ich lege mich hin und reite auf bleiernen Träumen in den Morgen hinein…

    Hildegard hat mich verlassen. Sie habe in meinen Papieren gelesen. Jetzt bin ich allein. Vor mir, auf der gelben Tapete, kreist eine Spinne. Im Radio spricht ein Professor. Alexander von Rüstow heißt er und verlangt Frontbewußtsein. Die Berliner als Vorbild. Wir sollen unverbraucht sein. Es sei alles viel einfacher. Bitte nicht so »problemzerfressen«! Granaten in befriedigend schönen Kurven zu lenken ist für ihn wahrscheinlich erlernbare Ballistik, nichts weiter. Vermisse ich Hildegard? Es ist noch leerer im Zimmer. Aber ich atme leichter. In den Augen der Welt habe ich wieder einmal versagt. In meinen Augen ist durch Hildegards Weggang mein schlimmstes Versagen korrigiert worden.

    Frau Färber fragt jeden Tag nach Hildegard. Ich sagte, sie sei verreist. Frau Färber grinst. Gestern schob sie ihren Neffen herein. Er ist auf Urlaub hier. »Ich diene bei der Bundeswehr! Panzer!« sagte er. Er wollte sich nicht setzen. Wippte in einem fort von den Zehenspitzen auf die Absätze und wieder zurück, stemmte seine Fäuste in die Hüften, löste sie überraschend nach vorne, kreuzte die Arme über der Brust (wohl vom Vorgesetzten, diese Geste), legte dann das Kinn energisch in die rechte Hand, ließ seine Backenknochen eckig hervortreten und vermied überhaupt jede gemächliche Regung. Bubenhaft schlank. Ein Körper, dem man seine Zwecke ansah. Und ging zwischen uns auf und ab, so schnell und mit so großen Schritten, daß ich fürchtete, er werde die Wand durchbrechen, ins nächste Zimmer marschieren und auch dort noch die Wand durchbrechen und weitermarschieren durch alle Wohnungen der Häuserzeile. Frau Färber unternahm es, von mir gar nicht unterstützt, ihn zum Erzählen zu bringen. Er wollte nichts sagen. Ich erfuhr nur, was er alles nicht sagen dürfe. Das war so viel, daß er mein Zimmer bis tief in die Nacht hinein mit seinen Schritten erschütterte. Er gab mir auch zu verstehen, daß er von Zivilisten nicht viel halte. Ich stimmte ehrlich zu. Nachts träumte ich von

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