Ehen in Philippsburg
Tanzkapellmeister geblieben oder gleich Rennfahrer geworden, daß der seine Sache so ernst und so überzeugt und mit Zahlen und Prozenten garniert vortragen konnte, hätte er nicht für möglich gehalten, da er doch Relow bisher nur um der so kunstvoll in die Luft geblasenen Rauchringe willen geschätzt hatte. »Aber wir reden hier herum und im Sebastian wartet man auf uns«, rief Relow dann plötzlich und drängte zum Aufbruch. Der zweite Pförtner des Funkhauses, der die Ein- und Ausfahrt der Autos zu überwachen hatte, rannte zu dem silbergrauen Sportwagen, als sie den Hof betraten, und wartete mit geneigtem Kopf am Schlag bis sie eingestiegen waren. Er war so alt wie Hans und Relow zusammen. Hans scheute sich, seinem Blick zu begegnen. Der Wagen heulte auf wie ein ganzes Flugzeuggeschwader. Während Relow sich mit erschreckenden Hupen, deren akustische Vorbilder im Schweinestall, auf Hochseeschiffen über 20.000 Tonnen und in der Hölle zu suchen waren, einen Weg durch das Gewühl des abendlichen Stadtverkehrs bahnte, rauchte er eine Zigarette; und jetzt spürte Hans noch mehr, daß die Zigarre in diesem Gesicht ein Fremdkörper gewesen war. Eigentlich erwartete man eine Pfeife. »Hoffentlich sind Sie mit allem, was ich heute noch mit Ihnen vorhabe, einverstanden«, sagte Relow in die rasende Fahrt hinein. Hans machte ein Gesicht, als sei er einer, dem es gar nicht wild genug zugehen könne, und sagte mit einer Stimme, die nicht ganz ausreichte, das, was er sagte, glaubhaft zu machen: »So leicht wirft mich nichts um.«
Er ärgerte sich sofort über den Satz. Wieviel Gläser (und welchen Weins!) hätte er getrunken haben müssen, um einen solchen Satz richtig sagen zu können! »Ich will Sie im Sebastian einführen«, sagte Relow. Das sei eine Schlüsselbar und der geselligste Ort in ganz Philippsburg; wenn Beumann sich schon einmal entschlossen habe, Philippsburger zu werden, dann müsse er auch Sebastianer werden, sonst sei es hier nicht auszuhalten, insbesondere, wenn man, wie Beumann, in Kürze ein verheirateter Mann sei. Hans bemühte sich, ein fröhlich-neugieriges Gesicht zu machen. Er wußte, daß das Sebastian ein exklusives Nachtlokal war, deshalb machte ihn Relows Anspielung verlegen.
Vor einer schwach erleuchteten Rundbogenpforte, die in eine grobe alte Mauer eingelassen war und keinerlei Aufschrift trug, auch keine Reklame wies auf sie hin, hielt Relow an, holte einen großen altertümlich gearbeiteten Schlüssel aus der Wagentasche und schloß auf. Über teppichbelegte Steintreppen, die sich wie in einem Turm wanden, kamen sie an eine Tür, die mit dem gleichen Schlüssel zu öffnen war. Dann standen sie in einem Vorraum, in dem die Garderobe untergebracht war. Ein Mädchen schlüpfte durch einen schwarzen Vorhang. Zuerst eine nackte Schulter, ein nicht endenwollender Schenkel, dann eine Flut fahlblonder Haare mit einem zarten Gesicht, das Hans nicht mehr vergessen würde, weil die Augen so eng an der Nasenwurzel und so tief in ihren Höhlen lagen, daß auch der beiläufigste und absichtsloseste Blick dieses Mädchens einen traf wie etwas ganz von innen Kommendes: es war, als schaue sie einen immer prüfend und ein bißchen traurig an. Andere müssen, um so zu schauen, den Kopf senken, daß die Augen von unten herauf uns ansehen.
Das sei Hans und das sei Marga. Um Gottes willen: Marga! Noch einmal hinschauen, Marga, die Sekretärin aus dem Weltschau-Hochhaus, Büsgens Vorzimmermädchen, die ochsenblutrote Bluse aus dem vergangenen Sommer, das Mädchen, das durch den hellen Kies auf ihn zugekommen war mit den mahlenden Schritten, das später plötzlich jenen winzigen Schlüssel aus der Handtasche geholt hatte, und dann hatte sie ihn aus der Tiefe des Gangs noch einmal angeschaut, ja, das waren ihre Augen, aber so eng an der Nasenwurzel, so tief in den Höhlen waren die damals noch nicht gelegen, das Gesicht war breiter gewesen, die Haare kürzer, war die Beleuchtung schuld, oder hatte sie sich Schatten um die Augen gemalt, um ihre Augenhöhlen noch tiefer zu machen, oder war sie krank? Ihre Beine waren es noch, ja, das war ihr von den Schenkeln angeführter Gang, aber was tat sie hier? Wer hatte sie hierhergebracht? Mußte er sie nicht befreien aus dieser Umgebung? Marga reichte ihm die Hand. Fast ausgestreckt hob sich der Arm, an dem die Hand hing, vom Körper weg, hob sich langsam und schwankend, daß man hinschauen mußte und einen Augenblick lang fürchtete, der Arm werde abbrechen,
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