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Ehen in Philippsburg

Ehen in Philippsburg

Titel: Ehen in Philippsburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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an ihren Jahresringen nach, welcher von den achtzig es gewesen sei, der durch eine ähnliche Hitze in seinem Wachstum geschmälert worden war, wußte er, daß er, der Vierundzwanzigjährige, in diesem Sommer die höchsten Temperaturen seines bisherigen Daseins auszuhalten hatte. Seit er dies wußte, zuckte er zusammen, wenn er bloß die Klinke an der Gartentür anfaßte; brach bei der geringsten Bewegung in Schweiß aus und atmete nur noch mit halbgeöffnetem Mund. Andererseits wunderte er sich, daß er sich doch noch so gut bewegen konnte, daß er noch in der Lage war zu denken, sich Telephonnummern zu merken und seine Schuhe anzuziehen. 38 Grad im Schatten, das waren Temperaturen, die er nur aus Filmen kannte, Temperaturen, in denen nur noch weißgekleidete, von Ventilatorenflügeln und Jalousienstäben schraffierte Menschen lebensfähig waren, und auch die meistens nur unter Verlust ihrer sittlichen Würde, was dann im Verein mit Alkohol zu Exzessen in jederlei Genuß führte, zu Hasardspiel, Vergewaltigungen und Mord. In Philippsburg aber benahmen sich die Menschen bewunderungswürdig, fast sogar bedauerlich gut und sittsam. Sie gingen ihren Geschäften nach, hielten ihre Gesichter im Zaum, schwitzten natürlich, daß man es weithin sah, aber sie arbeiteten weiter, sie verlangsamten ihr Tempo kaum, wenn es sie auch die doppelte Anstrengung kostete, ihr normales Pensum zu bewältigen. Läge Philippsburg nicht in Deutschland, sondern in Marokko, Ägypten oder Persien und wäre doch von Philippsburgern bewohnt, so wäre der Beweis erbracht, daß nicht das Milieu den Menschen, sondern der Mensch das Milieu bestimmt: die würden nicht herumlungern und die Fliegen im Gesicht spazierengehen lassen; die Temperatur und das Klima, die aus Philippsburgern ein nachlässiges Südvolk machen könnten, gibt es gar nicht. Natürlich fielen auch hier ein paar Schwächere ab, wurden gewissermaßen entlarvt durch diesen ungeheuren Sommer, aber die waren – würde man genau nachforschen, es würde sich exakt beweisen lassen – wahrscheinlich gar keine echten Philippsburger, sondern Zugereiste, Leute untüchtiger Abkunft, Landlose, flüchtige Existenzen, die in Philippsburg nur schmarotzten, nicht aber zu jenem Stamm der Bevölkerung gehörten, der dieser Stadt selbst in Deutschland, wo die Tüchtigen wachsen wie das Unkraut, zu besonderem Ansehen seiner Tüchtigkeit wegen verholfen hatte. Die Wasserspülung, die Kläranlagen, die Straßen- und Parkreinigung und die Verkehrsmittel funktionierten ausgezeichnet, wie hart auch die Sonne die Thermometer traf. Und trotzdem erzählten sich die Leute, wo immer mehr als zwei beisammen waren, mit angenehmem Gruseln, welche Rekorde zu erleben sie in diesem Sommer Gelegenheit hatten. Der regenärmste Sommer seit achtzehn Jahren, der heißeste seit siebenundzwanzig, der wolkenloseste seit vierzehn, der gewitterärmste seit zwölf Jahren, und der Wasserstand im Stadtsee soll gar seit zweiunddreißig Jahren nicht mehr so niedrig gewesen sein. Frau Färber konnte alle diese Zahlen und einige Sondervergleiche aus ihrem Haushalt dazu – die Haltbarkeit der Milch, Abortverhältnisse und ähnliches betreffend – rasch und auswendig hersagen, so daß Hans diesen Rekordsommer allmählich zu würdigen wußte und ihn nun wie einen Zehntausendmeterläufer beobachtete, der während seines Laufs einen Kurzstreckenrekord nach dem anderen bricht, was von Mal zu Mal ungläubiges und bewunderndes Raunen bei den Zuschauern auslöst, und die Frage sich erhebt, was man da wohl noch alles zu erwarten habe.
     Die, die in solchen Sommern verreisen, meinen ja immer, wenn sie sich inmitten der Touristenheere ihren sonnigen Zielen zuwälzen und in den entferntesten Breiten nicht fertig werden, wieder und wieder Bekannte und Erzbekannte zu grüßen, daß die heimatlichen Städte jetzt leer und verlassen unter der Sonne lägen; aber wer zu Haus bleibt, weiß, daß die Straßenbahn nicht weniger voll ist als zwei Tage vor Weihnachten. Es sind immer und überall so viele Menschen vorhanden, um Platzmangel, Gedränge und den Eindruck, daß es zu viele sind, hervorzurufen. Zur Zeit, als das Fest bei Volkmanns stattfinden sollte – steigen sollte, hatte Frau Volkmann gesagt, Hand und Blick anmutig nach oben werfend, als sehe sie einem Sektpfropfen nach, der sich in einer gewissen Höhe in eine bunte Illumination verwandelt und feuerregnend in Gestalt eines riesigen Schirms wieder herunterschwebt –, zu dieser Zeit hätte

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