Ehen in Philippsburg
Ja, die Öffentlichkeit mußte gestorben sein, es mußte Streit gegeben haben unter ihren Erben, Streit schon darüber, was ihr Interesse sei, was ihr eigentlicher letzter Wille, Streit auch darüber, wer von sich behaupten dürfe, ihr Sachwalter zu sein und ein ganz waghalsiger Streit darüber, ob man ihren Äußerungen wirklich trauen dürfe, ob man wirklich alle ihre Wünsche zu erfüllen habe, da sie ja, gestehen wir’s uns doch ein, manchmal recht belächelnswerte Wünsche geäußert habe. Um so wichtiger sei es aber, das echte Interesse der Öffentlichkeit zu erkennen und zu wahren, ihr wohlverstandenes Interesse! So ist es immer, dachte Hans, wenn reiche, aber recht schrullige oder simple alte Damen sterben. Wer weiß, was sie eigentlich wollten? Und haben sie denn überhaupt gewollt?
Der Intendant hatte seinen Statistiker mitgebracht, es war einer der glatten jungen Herren, der hatte die schwerdurchschaubare Dame Öffentlichkeit auf Herz und Nieren und auf noch viel mehr geprüft und konnte Kolonnen von Zahlen aufmarschieren lassen, mit denen man alles beweisen konnte, was der Intendant für beweisenswert hielt. Der zweite junge Herr, sein persönlicher Referent, ein Soziologe, trug nach dieser statistischen Diagnose vor, was der Herr Intendant als Therapeut geleistet hatte. Darauf las der Statistiker wieder Zahlen vor, die bewiesen, daß der Intendant den wahren Willen der Dame Öffentlichkeit tatsächlich erkannt hatte, daß er ihre Klagen gehört und richtig eingeschätzt hatte und daß er dann auch die einzig wirksamen Besserungsmethoden angewandt hatte.
Die Öffentlichkeit selbst – das machten die Zahlen deutlich – hatte es ihm dankbar bestätigt. Aber nicht als ihr Sklave habe er gehandelt, sondern nach eigenster Einsicht und Verantwortung.
Wunderbar, dachte Hans. Ein unangreifbarer Bericht. Eine Diskussion erhob sich. Hans dachte, was gibt es denn da noch zu reden? Der Intendant ist ein kluger Mann. Viel klüger als ich. Er hat die alte Dame Öffentlichkeit, die nie recht wußte, was sie wollte, mit List und Klugheit behandelt, also gebt ihm doch euren Segen. Aber der Saal war voller Zweifler und Nörgler. Ob das Funkhaus nicht doch im Leeren treibe! Ob die Herren hier nicht doch allmählich spürten, daß sie von ihren Hörern nichts wüßten?… Der Intendant gab alles zu und widerlegte alles. Ein prachtvoller Mann. Sobald einer etwas gegen seine Ansichten sagte, rief er: »D’accord! Völlig d’accord, aber…« und dann sagte er das Gegenteil.
Die Presseleute hörten offensichtlich nicht gerne zu. Sie waren allem Anschein nach nicht hergekommen, um etwas zu erfahren, sondern um ihren bis an den Rand vollen Redekropf auszuleeren. Es gab bedächtige Herren unter ihnen, die die Sätze langsam aus dem Mund streichen ließen, endlose Sätze, die im Raum herumhingen wie Rauchfahnen bei Windstille; dies Redner wurden wahrscheinlich nur deswegen nicht unterbrochen, weil ihnen schon lange keiner mehr zuhörte. Endeten sie dann, so dauerte es einige Zeit, bis man bemerkte, daß die Stimme endgültig versiegt war. Allein der Intendant hörte diesen Reden noch aufmerksam zu, aufmerksam und geduldig und geradezu aufmunternd dem Redner zulächelnd; wenn der dann vielleicht bemerkte, daß alle anderen nicht mehr zuhörten, daß nur noch der ihn mit Aufmerksamkeit honorierte, den er gerade anzugreifen im Begriffe war, dann wurde er wahrscheinlich milder und milder. Der Intendant faßte schließlich das zähe Gewoge von Sätzen rasch zusammen. Bei seinen Entgegnungen benutzte er Wendungen aus dem Wortschatz seines Vorredners, mischte überraschende Fremdworte wie Blumen dazwischen, bog alles ein bißchen zurecht, tat aber so, als zitiere er: man hatte den Eindruck, als umarmten sich zwei Reden, während die Redner selbst ganz ruhig sitzen bleiben konnten. Programmdirektor Knut Relow sagte während all dieser Diskussionen nicht ein einziges Wort. Er saß bewegungslos wie eine Schaufensterpuppe, die einen Anzug zur Geltung zu bringen hat. Sein Kopf war fast immer von Rauchwolken eingehüllt, und wenn die sich lichteten, sah man ein Gesicht, das deutlich zeigte, wie schnell alle Probleme gelöst gewesen wären, wenn sich dieser Mund auch nur ein einziges Mal geöffnet hätte. Wenn er sich aber öffnete, dann nicht zum Sprechen, sondern um Rauch zu entlassen; manchmal stieß er diesen Rauch aus dem fischartig starr aufgeklappten Mund mit der Zunge so jäh heraus, daß sich Rauchringe bildeten, die
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