Ehen in Philippsburg
der wartete, bis die gerade laufende Vorstellung zu Ende war. Benrath löste eine Karte, stellte sich zu den Wartenden, die mit demütigen Gesichtern oder unruhig hochgereckten Hälsen dem Einlaß entgegensahen. Einen Augenblick lang musterten ihn die, die schon länger anstanden, die sich vielleicht schon seit einer Viertelstunde an den Armen oder an den Schultern oder an Hüften und Schenkeln berührten, die ihm, dem Neuling, wie ein Haufen Blutsverwandter oder Verschworener erschienen. Aber als dann ein weiterer Kinogänger sich dem Haufen näherte, da sah ihn Benrath genauso über die Schulter hinweg an, wie er gerade noch angeschaut worden war. Da fühlte er sich aufgenommen. Und von jetzt an zuckte er nicht mehr bei jeder Berührung zusammen (ein »Entschuldigung« murmelnd), jetzt schmiegte er sich berührungsbereit ganz in die warme, auf die Einlaßtür hinatmende Herde hinein. Er spürte, daß das Kino zu den wirklichen Naturereignissen gehörte. Man suchte es auf, wie man an einem heißen Sommertag den Schatten eines Baumes aufsucht, wie man im späten Winter in ein Quadrat Sonne tritt und den Körper der Wärme hinhält.
Dann durften sie endlich hineingehen. In den Gesichtern derer, die aus der gerade beendeten Vorstellung herausströmten oder -taumelten, las Benrath, was ihn erwartete. Die Gesichter waren weit geöffnet, maskenlos, durchsichtig, für jeden Einfluß empfänglich, aufgeblüht unter den Wirkungen der Leinwand. Benrath dachte: ich würde mich ein bißchen genieren, mein Gesicht in solcher Verfassung auf die taghelle Straße hinauszutragen. Hoffentlich konnte er sein Gesicht in den Tüchern der beginnenden Dämmerung bergen, wenn seine Vorstellung zu Ende war. Noch bevor alle ihre Plätze erreicht hatten, schmolz das Licht an den Wänden über ein düsteres Rot ins Schwarze. Es ist wie in der Kirche, dachte Benrath, viele Leute sitzen nebeneinander und schauen nach vorne. Der Vorhang gab die Leinwand frei, und die begann auch sofort lebendig zu werden. So lebendig, daß Benrath, der nicht jede Woche ins Kino kam, keine Sekunde mehr an sich selbst denken konnte, auch gar keine Gelegenheit mehr hatte, in eine Zwiesprache mit sich selbst zu kommen, um über das, was dort leuchtend geschah, zu urteilen; die Leinwand diktierte; eine Auseinandersetzung, ein auch nur flüchtiger Abstand war nicht möglich. Er konnte nicht einmal mehr zuschauen; so lächerlich die Handlungen waren, es waren seine Handlungen geworden, er wurde hineingerissen von den Bildern in eine Welt, die letzten Endes doch eine prächtige Welt war.
Als alles zum Ausklang sich neigte, als der Vorhang sich über der noch einmal aufrauschenden Schlußmusik schloß und sie und die Leinwand in seinem dunklen Purpur begrub, da dauerte es einige Zeit, bis Benrath zu sich kam. Noch stand er schwankend auf einem Fixstern voller Palmenwälder und Beaches, und er erinnerte sich nicht, jemals so weit von der Erde entfernt gewesen zu sein, von jener Erde, deren Luft man Wirklichkeit nannte, eine chemische Verbindung, deren Elemente niemand genau kannte. Und dahin sollte er nun zurück. Die Leinwand war tot, eine Leiche hinter einem Vorhang, das Tor dorthin geschlossen. Warum hatte er nicht mit in jenes Boot springen können, das in die Bucht hinausgefahren war, die Guten an Bord, die Bösen tödlich getroffen am Strand zurücklassend! Er rieb sich die Schläfen. Er erinnerte sich an die Wartenden vor der Tür. Er mußte eilen, noch im Haufen hinauszukommen und nicht als deutlich anschaubarer Einzelgänger. Er mußte sein Gesicht in seine Gewalt bekommen, bevor er der Herde für die nächste Vorstellung in die Hände lief. Im Hotelzimmer dachte er dann: es war gut, diesen Tag auf viele Stellen zu verteilen. Er mußte etwas haben, was sich zwischen den Augenblick, da er Birga gefunden hatte, und die Gegenwart stellen ließ; möglichst viele Gegenstände und Menschen und Häuser und Bilder mußten sich in kurzer Zeit in ihm sammeln, um jenen Augenblick im Wohnzimmer zur Vergangenheit, zu immer tieferer Vergangenheit werden zu lassen. Er wollte Birga nicht vergessen; auch jenen Augenblick nicht. Aber er wollte Birga in einer abgekapselten, ruhig zu betrachtenden Vergangenheit sehen. Das Kino war gut, dachte er, das hat mir geholfen, da hätte ich eine weite Reise unternehmen müssen, um soviel Landschaft, so viele Häuser und Gesichter hinter mich zu bringen. Eine Art Märchen war es, schön und unwahr, wie die Gedanken, die man sich über
Weitere Kostenlose Bücher