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Ehen in Philippsburg

Ehen in Philippsburg

Titel: Ehen in Philippsburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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das Leben macht. Birga ist tot. Tot. Birga ist tot… Ein Satz. Drei Worte. Zum Auswendiglernen. Zum Begreifen. Zum Nachsagen. Birga ist tot. Tut das weh? Und wo? In der Magengrube? Es radiert in der Herzgegend. Zieht in den Venen, als verlöre man Blut. Aber es ist nicht so schlimm, wie man sich das vielleicht vorstellt. Es ist unbegreiflich. Zahnschmerzen bohren heftiger. Es ist der Kopf an der Wand. Der Eigensinn muß bluten. Diese Wand gibt nicht nach. Sie hat kein Muster, kein Ende, und sosehr man seinen Kopf dagegenschlägt, sie gibt keinen Ton. Man begreift gerade noch, daß der Kopf immer schon an dieser Wand war. Birgas Tod hat einem die Augen geöffnet. Jetzt sieht man die Wand, sieht bei jedem neuen Sturz auf sie zu, wie sie näher kommt, spürt den Aufprall schon vorher, schreit nicht mehr, weil ja hier kein Laut möglich ist, stürzt eben hin, weil man begreifen will und auch schon eingesehen hat, daß einem das versagt ist oder nicht gelingt, und trotzdem sucht man sich nach jedem Aufprall wieder zusammen, richtet sich auf zum nächsten Sturz auf die Wand zu, weil ein Mensch ja nicht nichts tun kann… Sollte er Schlaftabletten nehmen? Nein. Er war gestern zu ängstlich gewesen. Ganz bestimmt wäre er auch gestern ohne Tabletten eingeschlafen. Er hatte geglaubt, er sei es sich schuldig, sich und einer allgemeinen Vorstellung von Anstand, daß er nach einem solchen Ereignis nur mit Hilfe einer starken Dosis Tabletten einschlafen könne. Er hätte sich Vorwürfe machen müssen, wenn er ohne jede künstliche Betäubung eingeschlafen wäre. Aber jetzt würde er keine Tabletten mehr nehmen. Er würde sich keine Vorwürfe machen. Er selbst machte sich ja eigentlich nie Vorwürfe. Die Stimmen in ihm stritten sich, die einzelnen Rollen seines Seelentheaters. Heute war es schon eher ein Parlament. Er war auf der Zuhörergalerie, nein, auf der Pressetribüne, er hörte zu und registrierte sachverständig. Er hatte nicht zu urteilen, sondern lediglich einen Bericht zu schreiben. Gerne hätte er in all den Stimmen seine eigene entdeckt. Aber er existierte ja nicht als Einzelstimme. Er war ein konfuser Stimmenschwall, und es bedurfte schon ganz stiller, ganz aktions- und ereignisloser Zeiten, wenn er die Stimmen einzeln abhören wollte. Ein Ereignis, über das er sich Klarheit verschaffen wollte, mußte vergangen sein, abgeschnitten von allem Gegenwärtigen – und das ist nie ganz der Fall –, dann konnte er mit der Lese seiner Stimmen beginnen. Birgas Tod, das war eine Brandung aus Zorn, Eifer und Scham. Was hatte er auf diesen Tod zu antworten? Was würde er tun? Er mußte jede Antwort verweigern. Er wußte nur, ein solcher Tod muß Folgen haben. Er würde sie erfahren.
     Am nächsten Morgen schnitt ihn das schrille Telephon aus seinen Traumgewändern heraus. Es war Dr. Alwin. Birgas Eltern hatten sich für den nächsten Tag angesagt. Birga sollte übermorgen überführt werden, um in dem Dorf, zu dem die Villa im Voralpenland gehörte, beerdigt zu wer den. Benrath sagte, er wisse noch nicht, wo er morgen sei. Dr. Alwin sagte, die Staatsanwaltschaft habe selbstverständlich keinen Grund gesehen, Ermittlungen anzustellen. Die Leiche sei freigegeben worden. Dann rief Benrath noch Dr. Rennert an und teilte ihm mit, daß er verreisen werde. Dr. Rennert möge bitte die noch liegenden Patientinnen übernehmen. Dafür, daß Neuaufnahmen unterblieben, sei gesorgt. Benrath war froh, als er den Hörer auflegen konnte. Er konnte sich nicht vorstellen, daß er die Klinik je wieder betreten würde. Mit einem Arzt zusammenarbeiten zu müssen, dessen Frau Selbstmord begangen hatte, das wollte er den Leuten im Elisabethenhaus nicht zumuten. Die Schwestern wußten es sicher schon. Und wenn er wieder arbeiten würde und die Schwestern würden den Patientinnen erzählen, daß die Frau des Doktors … das würde auf die Wöchnerinnen, die in den Tagen um die Niederkunft ohnehin animalisiert sind, recht üble Wirkungen haben. Bevor er das Zimmer verließ, schrieb er noch rasch – er stand dabei – eine Karte an seine Schwiegereltern. Er könne jetzt nicht kommen. Wahrscheinlich könnten sie ihm nicht verzeihen. Das verstehe er. Dann bezahlte er seine Hotelrechnung, hinterließ keine neue Adresse und reihte sich mit seinem Wagen in den schon wieder recht lebhaften Vormittagsverkehr ein.

    4

    An diesem Vormittag brach Benrath sein Versprechen, Cécile nie in ihrem Geschäft aufzusuchen. Sie machte ihm keine Vorwürfe. Sie wußte

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