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Ehen in Philippsburg

Ehen in Philippsburg

Titel: Ehen in Philippsburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Stresemannstraße! Und er kannte nicht nur Benraths Auto, sondern auch ihn selbst, und darüber hinaus war er ein gemütlicher Mensch, der mit jedem seiner Kunden gern ein bißchen plauderte, auch außerhalb der Garage, wenn er einen traf, zum Beispiel den Herrn Dr. Benrath vom »Elisabeth«, das war ihm sogar eine Ehre.
     Benrath hatte all die Jahre hindurch diese beiden Entdeckungsmöglichkeiten – vielleicht gab es noch andere, die er gar nicht kannte – in sein Lügennetz einbeziehen müssen. Er hatte alle möglichen Wege zu den verschiedensten Tages- und Nachtzeiten ausprobiert, um entweder dem Milchhändler oder dem Reparaturmeister zu entgehen, oder beiden zugleich. War er vor sechs Uhr abends in die Straße gekommen, hatte er den Weg am Häuschen des Reparaturmeisters vorbei genommen, weil sich der ja um diese Zeit noch in der Garage befinden mußte. Nach sechs Uhr ging er am Milchladen vorbei, weil der um halb sieben schloß. Aber das war nie ganz sicher. Und heute? Birga…
     Ja, er würde auch heute den Weg nehmen, den er sich für die Zeit vor sechs Uhr ausgedacht hatte. Und dies nicht nur aus Gewohnheit. Die Umwelt war für ihn auch jetzt noch eine Ansammlung von Augen, Ohren, flüsternden Zungen und vorgestreckten Hälsen. Und doch hätte er es vielleicht zu Birgas Lebzeiten wahrscheinlich nicht gewagt, schon am Vormittag in die Stresemannstraße einzudringen, vor-, beizugehen an allen Küchenfenstern, die um diese Zeit weit offenstanden, in denen in jedem Augenblick die Büsten der Hausfrauen erscheinen konnten, die seinen Weg mit den Augen notierten, um beim Mittagessen ihren Männern zu berichten, daß der Dr. Benrath vorbeigegangen sei, ja, der Frauenarzt aus dem »Elisabeth«, bei dem die Frau Reptow entbunden habe und die…
     Benrath zog zuerst alle Vorhänge zu in Céciles Wohnung. Keines der Zimmer war aufgeräumt. Er setzte sich auf die niedere quadratische Couch, die noch mit Bettzeug überworfen war. Der Pyjama lag noch da. Er griff danach. Ließ ihn durch die Hände gleiten. Schob den Aschenbecher, der voller Stummeln war und auf dem Boden stand, unter die Couch. Plötzlich sah er im Spiegel, daß er nicht rasiert war. Auch gestern hatte er sich nicht rasiert. Zum Glück hatte er bei Cécile immer einen Rasierapparat gelagert. Und Hektor! Ob ihn die Schwiegereltern mitnahmen! Hektor war Birgas Hund gewesen. Ganz und gar Birgas Hund. Die Schwiegereltern wußten das. Sie würden hoffentlich nicht auf den Gedanken kommen, eine polizeiliche Untersuchung zu verlangen, weil der Mann ihrer Tochter nicht da war. Für sie mußte die Nachricht ganz unbegreiflich sein. Birga hatte ihren Eltern nie etwas erzählt über ihr Unglück mit ihm, das wußte er. Das hatte ja einen guten Teil ihres Unglücks ausgemacht, daß sie niemanden hatte, niemanden haben wollte, daß sie ihr ganzes Dasein ausschließlich von Benrath abhängig gemacht hatte; sogar ihre Mutter war ihr fremd geworden. Man hatte den Eltern wie der übrigen Welt eine glückliche Ehe vorgespielt. Und jetzt hatte sich Birga das Leben genommen, und der Schwiegersohn ließ sich nicht mehr sehen, kam nicht einmal zur Beerdigung, mußten sie da nicht mißtrauisch werden? Aber würde ein Mörder sich so benehmen? Einer, der mit der Waffe oder mit Gift mordet, benimmt sich nicht so. Der würde zur Beerdigung gehen und mehr weinen als alle anderen. Aber einer…
     Benrath stockte. Er wollte doch nicht an Birga denken. Es waren Häuser zwischen ihm und ihr. Tage und Nächte schon, viele Atemzüge, und jene Schwelle, die sie überschritten hatte. Aber er mußte selbst etwas aufrichten zwischen ihr und ihm: Dr. Alwin, das Kino, der Lieferwagen mit den Tomatenkistchen, die eins nach dem anderen in den Laden schwebten. Céciles Pyjama roch gut. Nach ihrer Haut, die sich so eng um ihren Körper spannte, daß man sich immer wieder wunderte, wie gut sie sich doch darin bewegen konnte. Er lächelte über diese Vorstellung. Er lebte doch noch. Céciles Wohnung war heruntergekommen, das fiel ihm zum ersten Mal auf. Cécile hatte alles verfallen lassen. Diese Art von Ordnung war ihr nicht mehr wichtig gewesen. Aber auch Cécile lebte noch. Sie hatte durchgehalten. Er auch. Birga. Ihr Tod hatte vor langer Zeit begonnen. Nicht zur Beerdigung. Nicht einmal zur Beerdigung. Die weißgrauen Augen seines Schwiegervaters. Diese Villa der Ruhe, der wie auch immer erkauften, aber doch durch Jahrzehnte hin aufrechterhaltene Ruhe. Und die Schwiegermutter, die so

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