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Ehen in Philippsburg

Ehen in Philippsburg

Titel: Ehen in Philippsburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Cécile eine ganz andere Bedeutung hatten als für die anderen Anwesenden, ihm hatte es zuweilen sogar Spaß gemacht, so doppelzüngig aufzutreten und die Täuschung bis zur Perfektion auszubilden. Er hatte Anlagen zum Virtuosen. Cécile aber errötete, wenn sie ihm in Gesellschaft die Hand reichte, sie zuckte zusammen, wenn er einen Raum betrat, sie war ihrer selbst nicht mehr mächtig und mußte Erklärungen über Erklärungen finden, die ihr oft recht seltsames Benehmen rechtfertigen sollten. Und jetzt erlitt sie Birgas Tod. Er sagte sich, ein Eiterzahn tut auch weh. Ja, soll die ganze Welt gleich vor Entsetzen aufschreien wegen dieses Vergleichs, es ist doch so, weh tut alles, was wirklich ist. Was wirkt, kann nur durch Schmerz auf uns wirken. Und wenn nicht nichts ist, ist Schmerz. Jeder Eindruck, alles, was überhaupt empfunden wird, ist Schmerz. Das war seine Erfahrung. Und jetzt Birgas Tod. Es schmerzt, solang man daran denkt. Cécile schmerzte ihn genauso.
     Aber wie sollte er das sagen! Einer Frau kann man das nicht sagen. Er hatte Cécile immer wieder ihr schlechtes Gewissen abnehmen wollen, hatte sie zu überreden versucht, alles seiner Verantwortung zu überlassen, Cécile hatte gelächelt. Er hatte ihr nie helfen können. Er hätte sich von ihr trennen müssen, das wäre die einzige Hilfe gewesen. Einmal hatte sie zu ihm gesagt: das einzige, was du für mich tun kannst, ist, dich von mir zu trennen. Benrath atmete alle Luft aus, die in ihm war, preßte seine flachen Hände gegen seine Rippen und atmete dann ganz langsam wieder ein. Er mußte Übungen machen gegen die Erinnerung. Er konnte jenes Ereignis nicht wie eine Tafel in sich hineinstellen, auch wenn er deren Aufschrift nie zu lesen gedachte. Oder würde er doch versuchen müssen, diesen stillen und einfachen Tod von vorgestern nachmittag irgendwann einmal zu begreifen? Alles zu vergessen, ohne darüber nachzudenken, wäre das Beste gewesen. Cécile saß vor ihm. Und er mußte nicht heim. Mußte nicht auf seine Kleidung aufpassen, mußte keine Systeme von Lügen mobil halten. Hatte es da noch Sinn, Birgas Tod auf eine besonders menschliche Weise verdauen zu wollen? Natürlich spürte er eine Art Verpflichtung, Birgas Tod gerecht zu werden. Aber wie? Natürlich wußte er, daß man ein solches Ereignis als eine Art Aufgabe mit sich tragen sollte. Es gab da eine ganze Reihe bekannter Verhaltungsweisen, abendländischer Verhaltungsweisen. Aber warum sollte er darüber nachdenken? Warum sollte er sich einreden, daß man sich in einer solchen Lage menschlichem Hörensagen nach so und so zu verhalten habe? Seine erste Regung, als er festgestellt hatte, daß Birga nicht mehr lebte, war gewesen: Cécile, jetzt! Und dieser ersten Regung würde er folgen. Alles Hin- und Herdenken und alles , Hinaufschielen zu den Tafeln, auf denen das Allgemein richtige zu lesen war, das würde ihn vielleicht erheben, würde aus ihm ein Erz machen mit einem geradezu feierlichen Klang, eine Zeitlang, bis er es satt hätte, sich selbst zu beweihräuchern, dann würde er zurückfallen in die Mitte seiner selbst. Und selbst wenn sein Entschluß, Birga und ihren Tod zu vergessen, falsch sein sollte, wenn Verhängnis daraus entstünde, dann trug er wenigstens an dem von ihm selbst verschuldeten Verhängnis und nicht an dem, das von recht weit entfernten Tafeln her bewirkt worden war. »Cécile?«
     Sie schaute ihn an. Benrath dachte, hoffentlich antwortet sie nicht. Er konnte nicht mit ihr sprechen. Er sah es ein. Sie waren zu weit auseinandergeraten. Unglück entsteht immer dann, wenn Männer so tun, als verstünden sie eine Frau; gar wenn sie dann einer Frau zuliebe handeln, Leben einrichten ihr zuliebe, Häuser und Familien gründen. Was ein Mann einer Frau zuliebe tut, hat keine Dauer. Er fällt ab. Er kann nur sich selbst zuliebe leben und handeln. Benrath dachte es, als er Céciles entstelltes Gesicht sah, als er in ihren Augen den ihm seit langem vertrauten Ausdruck ihrer Verzweiflung wahrnahm, der diese Augen noch nie so starr gemacht hatte wie heute.
     Etwas in ihm wollte ins Bewußtsein dringen, etwas Ungeheuerliches, er floh, er wollte es nicht wahrhaben, jetzt nicht, nicht solange er Cécile gegenübersaß, er hatte zwar sein Gericht, das über ihn zu befinden hatte, gut in der Hand, aber vielleicht gab es da eine Grenze, vielleicht fiel da irgendwann einmal ein Urteil, das er nicht vorformuliert hatte. Er konnte Cécile nicht mehr anschauen. Sie war häßlich.

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