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Ehen in Philippsburg

Ehen in Philippsburg

Titel: Ehen in Philippsburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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schon vergessen hatte. Plötzlich fiel dann der Mundwinkel wieder in seine normale Lage zurück. Aber, wenn man einmal auf dieses Zucken aufmerksam geworden war, konnte man seine Augen nur noch unter Aufbietung großer Willenskraft von dem Mundwinkel wegbringen, man war einfach versucht, auf diese Stelle hinzustarren, um zu sehen, wann die Zuckung den Mund wieder hinaufreißen würde. Obwohl das übrige Gesicht von diesen Zuckungen verschont war und nichts davon zu wissen schien, so litt doch Céciles Mund unter diesem Übel. Die Zuckungen schienen es nicht bei dem linken Mundwinkel bewenden lassen zu wollen, sie hatten es auf den ganzen Mund abgesehen. Dieser ehedem so schöne Mund, diese volle fleischige Schwelle, die das ganze Gesicht in einer gleichzeitig ruhe- und schwungvollen Waage gehalten hatte, dieser Mund würde kentern, und zwar schon bald; und dann würde nicht nur der Mund kentern, sondern mit ihm würde das ganze Gesicht aus seinem schönen Gleichgewicht in eine gräßliche Unordnung stürzen, die dann nicht mehr beim Gesicht haltmachen konnte.
     Fast freute sich Alwin einen Augenblick seiner Einsichten über Céciles Zukunft. Er schwebte hoch über Cécile, schraubte sich in immer enger werdenden Kreisen auf sie zu, Geierfreuden im Blick; wenn das Opfer seinen Zustand erst einmal erkannt hatte, würde es sich nicht mehr wehren…
    Geduld, Alwin! Ein Geier muß warten können. Mehr nicht.
     Gewaltsam wandte er sich dann wieder Herrn Büsgen zu, um dessentwillen er überhaupt zu der Gruppe getreten war. Ein bißchen auch wegen Cécile, gestand er sich jetzt ein. Der mächtigste Mann und die schönste Frau auf einem Platz, der Abend konnte nicht besser begonnen werden. Wenn die Herrschaften wüßten, wo er vor noch nicht zwei Stunden gewesen war! Was er mit Vera… na ja, die hatten keine Ahnung von ihm.
     Claude, den dritten im Kreise, in den er eingedrungen war, begrüßte er sehr kurz, fast ohne ihn anzuschauen. Der kam nicht in Frage. Nie. Und dann sollte er auch noch Céciles Geliebter sein. Das machte ihn in Alwins Augen zu einem Feind. Andererseits stimmte es ihn hoffnungsvoll. Claude war nicht größer als er selbst, bitte, wenn Cécile, die um einen Kopf größer war, diesen langhaarigen Filou angenommen hatte, dann hatte auch er Aussicht. Hoffentlich wirbt Büsgen nicht um Claude, fiel ihm plötzlich ein. Das wäre noch schöner, dann hätte er ja doch die Dummheit gemacht, den Chefredakteur in der Verfolgung erotischer Pläne zu stören. Alwin wußte aus eigener Erfahrung, daß sich einer, der sich um unsere Gunst bewirbt, durch nichts so unbeliebt machen kann als dadurch, daß er uns in diesem Bereich in die Quere kommt. Aber Claude galt doch als ein viel umworbener Frauenheld. Er hatte die Gestalt eines Knaben, das Gesicht eines Mannes und die Augen einer traurigen Südländerin. Vielleicht hatte sich Büsgen tatsächlich in ihn verliebt. Büsgen war heute ohne seinen blonden Jungen erschienen. Alwin beschloß, Claude ein paar freundliche Blicke zuzuwerfen. Die drei waren übrigens recht einsilbig geworden, seit Alwin bei ihnen stand und sein Sherryglas unentschlossen vor der Brust wiegte. Mit seiner Entschuldigungsrede hatte er nur ein mühsames Lächeln auf den drei Gesichtern erzeugt. Er fühlte, daß es nun höchste Zeit wurde, sein Eindringen durch eine Frage oder durch eine Mitteilung, die sich mit einem Anschein von Wichtigkeit versehen ließ, zu rechtfertigen. Alwin ertappte sich dabei, daß er immer noch befriedigt bei der Feststellung verweilte, Claude sei auch nicht größer als er selbst. Ja sogar Büsgen war nicht um einen Zentimeter größer als er. Cécile allein überragte sie alle drei. Wen würde sie zu sich hinauf heben? Büsgen nahm die schwere flaschengrüne Hornbrille aus seinem rotbraunen Gesicht. Jetzt wiegte er sich in den Hüften, hob sich auf die Zehenspitzen, sah auf den Boden vor Alwins Schuhen, sah wieder auf zu Alwin, zog die Winkel seines lippenlosen Mundes abwärts, ließ gleichzeitig sein eckiges Kinn wie einen Schiffsschnabel auftauchen (man meinte, gleich müsse das Kinn die schmale, scharf über dem Mundstrich hängende Nase berühren), zeigte in seinem ganzen Gesicht jene Art von Erwartung, mit der der Professor einen Kandidaten anschaut, der auf die letzte Frage schon seit Minuten die Antwort schuldig bleibt, so daß in jedem Augenblick damit zu rechnen ist, der Professor werde das lautlose Explodieren der Sekunden nicht mehr länger ertragen, und

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