Eheroman (German Edition)
nur seine Augen bemühen sich und schauen hell und mit anständigem Humor tapfer auf den Patienten.
Ava nickt, sie hält Martin an seiner kleinen Hand, Martin wischt sich mit der anderen Hand das verklebte Blut von der Backe, es juckt ihn, aus dem schmal klaffenden Riss an der angeschwollenen Stirn läuft immer noch still und stetig ein kleines Rinnsal dünnen, roten Blutes. Er hat sich damit abgefunden. Er ist noch dort, wo man sich mit allem abfindet, in der ganz frühen Kindheit, kaum angekommen im Jetzt, und schon Urlaub in der Schweiz. Was soll er in der Schweiz, was soll ein so kleiner Junge eigentlich in der fremden Schweiz?, denkt sie und beobachtet das Blut und weiß, wie unsinnig ihre Gedanken sind.
Danilo ist mit Merve bereits gegangen. Er wollte nicht mehr in dem vollen Wartezimmer sitzen. Es ist alles Danilos Idee gewesen, denkt sie weiter, als wäre Danilo deshalb schuld an dem Unfall, weil er in die Schweiz gewollt hatte. Danilo geht derweil schön zu Fuß zurück. Oder er fährt mit dem Bus. Merve ist nicht dafür gewesen, das Wartezimmer zu verlassen. Merve wollte sehen, wie der Arzt die Wunde «zunäht». Sie ist an allen Dingen interessiert, ob grausam, ob schmerzhaft, ob schön, sie ist im interessierten Alter und will alles wissen. Danilo hat ihr Eis versprochen, dann ist sie mitgegangen. Danilo konnte nicht mehr bleiben. Der Unsinn des Gemeinsamwartens hatte ihn mürbe gemacht.
Der Schweizer Arzt legt das Kühlkissen auf einem Unterteller ab. Die Schwester, dünn und blass, bringt es weg und kehrt mit einem neuen, eisig beperlten Kissen zurück. Der Arzt sieht sich Martin an. Die Schwester reinigt ihm sehr zärtlich sein Gesicht und die Haut um die Wunde herum, sie benutzt weichen, feuchten Zellstoff und lächelt dabei, Martin wartet stumm und weint nicht. Sie wischt sein Gesichtlein rein und klebt gemeinsam mit dem Arzt den Ritz zu. Sie haben ein elastisches, klebendes Band, sie halten den Ritz zusammen und kleben ihn dann damit fest zusammen. Martin sitzt auf einer Liege und rührt sich nicht. Seine kleinen Augen blicken irgendwoanders hin, in das Nichts, in seine Gedanken, was fast dasselbe ist. Er lächelt verlegen.
Die Schwester hebt ihn von der Liege. Er steht wackelig im Raum und greift einmal entschlossen mit seiner rechten Hand an die Stelle, auf der ein weiches Stück Zellstoff festgeklebt wurde. Er sieht Ava an, er sieht den Arzt an und sieht die Schwester an, dann federt er ein wenig in den Knien und lächelt, das ist seine Art, Scherze zu machen und Menschen für sich einzunehmen, in den Knien federn und lächeln. Ava nimmt ihn jetzt doch auf ihren Arm, sie muss es, sie muss ihn an sich drücken, und verabschiedet sich vom Arzt und von der Schwester, die ihr so sympathisch erscheinen, dass sie sie am liebsten in ihren Freundeskreis aufgenommen hätte. Das ist ihr Problem, ungenügende Abgrenzung, sie weiß es, sie weiß es, weil Danilo es öfter sagt, und sie weiß, wie er inhaltlich recht hat, aber welche Freundschaften schließt man schon, wenn man vorschnelle Entscheidungen in Herzensdingen vermeidet? Welche, Danilo?
Martins Kleidung klebt. Sie drückt seinen kleinen Körper an sich, während er sich schon wieder wehrt. Er will nicht getragen werden, er ist ein Mensch ganz für sich allein auf seinem eigenen Weg.
Sie steigt ins Auto und sieht bald zwei auf der Straße laufen, einen Großen und eine Kleine, in der harten Sonne, im brausenden Straßenverkehr. Danilo vorneweg, Merve hinterher. Merve in einer kurzen blauen Hose, ihre krummen Beine in weißen Söckchen und Turnschuhen. Merve, trödelnd, Gräser abrupfend, sich beklagend sicher, hinter ihrem großen Vater, der hält, um sich umzusehen und sie anzutreiben, sinnlos anzutreiben, weil sie störrisch ist wie ein Esel.
«Mama», ruft Merve. Sie reißt das Auto auf. Ava dreht sich um zu den beiden, Martin in seinem Sitz und mit seinem dicken Pflaster auf der Stirn lächelt breit, als er seine Schwester einsteigen sieht. Martin liebt seine Schwester, er liebt fast alle Menschen, er ist so unendlich großzügig.
Danilo setzt sich neben Ava und sieht weniger froh aus. «Ist es gut?», fragt er, ohne sich nach Martin umzudrehen.
«Ja, es war gar nicht schlimm. Sie haben das einfach zugeklebt.»
Danilo nickt. «Ich wollte nicht mehr warten.»
«Ja, klar», sagt sie.
Aber sie denkt, sie wäre nicht gegangen. Sie wäre keine Sekunde von Martin gewichen, sie muss immer alles wissen, seine Schmerzen, seine Verletzungen und
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