Eheroman (German Edition)
Kaffee auf. «Weißt du, wen ich gesehen habe?», ruft sie aus der Küche.
«Und?», ruft Ava aus dem Wohnzimmer. Sie hat sich wieder ausgestreckt. Sie lässt die Geräusche und die Sonne auf sich rieseln. Keine Kinder, kein Po-Abwischen, kein Stullenschmieren, keinen Streit schlichten, nur Ruhe und Faulheit und staubige Sonne, eine leichte Übelkeit im Magen, einen leichten Schmerz im Kopf und Zufriedenheit.
Beate trägt den Kaffee ins Wohnzimmer und stellt ihn vor dem Bett ab. «Stulle. Den Lkw-Fahrer. Weißt du noch?»
Ava setzt sich auf. «Den? Der fährt hier immer noch Lkw?»
«Was sonst? Ich hab ihn am Stint getroffen, beim Biertrinken.»
«Ich dachte, er wollte, hat er damals gesagt … er wollte … wenn er Geld hat, um die Welt segeln, wenn es geht.»
Beate schlürft ihren Kaffee und nickt. «Das hat er ja. Er hat sogar noch ein Boot, in Harburg ist das. Er ist damit eine ganze Weile rumgefahren, zehn Monate lang, da in der Nähe von Griechenland, Italien, Kroatien, keine Ahnung, hat er mir alles erzählt, am Stint, als wir da saßen und uns unterhalten haben.»
«Und jetzt ist er wieder hier?»
«Ja, klar. Jetzt ist er wieder hier und fährt wieder Lkw. Was sonst?»
«Was ist das denn für ein Traum?» Ava regt sich ein bisschen auf. «Da fährt man ein bisschen rum, und dann kommt man zurück und fährt wieder Lkw. Das ist doch kein Traum!»
Beate lächelt. «Warum denn nicht? Weil er vorbeigegangen ist? Alles geht doch vorbei. Und dann gehst du wieder arbeiten. Ganz normal. Das ändert doch nichts.»
Ava schüttelt den Kopf. «Das ist kein richtiger Traum, Beate. Das kannst du mir nicht erzählen, das ist kein richtiger Traum so.»
Beate zuckt mit den Schultern und geht in die Küche, um neuen schwarzen Kaffee zu kochen. Draußen schreien immer noch die Kinder. Es ist Sonntag, und es ist Sommer.
Ende August fahren sie in die Schweiz in ein kleines, dunkles Holzhaus in einem Bergbauerndorf im Kanton Graubünden, das den verstorbenen Eltern von Danilos ehemaligem Professor gehörte. Die Kinder schlafen viel, alle schlafen viel, als hätte das Leben sie alle gemeinsam zutiefst erschöpft. Zu den geplanten Wanderungen kommt es kaum, weil es heiß ist und niemand etwas wohin tragen oder ziehen will, wenn es dreißig Grad im Schatten sind. Also hängen sie vor dem Haus auf der Terrasse herum und betrachten die schöne Landschaft und empfinden gemeinsam eine große Müdigkeit.
Martin schlägt sich den Kopf an der Kante eines Steines auf, als er die Terrassentreppe hinunterstolpert, und sie müssen den örtlichen Arzt aufsuchen. Beim örtlichen Arzt sitzen sie zu viert im Wartezimmer, im ersten Schreck sind sie alle gemeinsam aufgebrochen, Ava, Danilo, Merve und der blutende, schreiende kleine Martin. Der nun bereits nicht mehr schreiende Martin will sich von seiner Mutter befreien, sie hält ihn umschlungen und drückt ihm ein Taschentuch gegen die blutende Stirn. Seine Tränen haben sich mit dem Blut und dem Schmutz vom Draußenspielen in seinem Gesicht vermischt und bilden eine langsam antrocknende Schicht, die sich über seinen ganzen zappelnden Körper verteilt. Martin hat für sich selbst bereits mit dem Missgeschick abgeschlossen. Er will sich im Wartezimmer umsehen, er will vor allem nicht mehr auf dem Schoß seiner Mutter fixiert sein, die Tränen tropfen nur noch spärlich, das Blut läuft kitzelnd über sein Gesicht, er streckt die Zunge heraus und leckt seinen blutigen Mund ab. Merve steht neben Ava und blickt sie fragend an. Darf Martin das? Aber was soll Ava tun? Das Geschrei hat endlich aufgehört. Deshalb lässt sie ihn. Sogar Danilo lässt ihn. Alle sind sie immer noch müde, trotz der Vormittagsschläfchen und Mittagsschläfchen und Frühabendschläfchen. Ava würde morgens am liebsten im Bett liegen bleiben. Aber Martin ist immer um kurz nach fünf wach. Wann wird er sich das abgewöhnen? Wann?
Der Schweizer Arzt ist jung und dünn und trägt ein grünes T-Shirt in seiner mit einem Gürtel festgezurrten weißen Arzthose. Er hat Zahnschmerzen, er hält eine Kühlkompresse an seine Wange und entschuldigt sich dafür. Er bemüht sich um ein verständliches Deutsch, er spricht langsam und deutlich und schweizerisch krächzend. «Es tut mir sehr leid, ich bin etwas lädiert, ich habe eine Wurzelentzündung, und ich nehme schon Schmerzmittel, aber es hilft bisher noch nichts.»
Der Schmerz steht in seinem jungen Gesicht wie eine Feder, die seine Gesichtsknochen gespannt hält, und
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