Eheroman (German Edition)
was sie mit ihm tun, sie hätte nicht Danilo mit ihm allein gelassen. Sie wäre geblieben. Sie hätte auch nicht, an solch einer befahrenen Straße, Merve hinter sich gehen lassen. Sie hätte sie vor sich gehen lassen oder sie an die Hand genommen. Aber sie sagt nichts. Danilo ist nicht so abhängig von den Kindern. Er lebt sein eigenes Leben. Sie auch, aber da sind die Kinder drin enthalten. Die Leben der Kinder und ihres sind so dicht beieinander, dass es fast dieselben Leben sind. Wäre da nicht noch Merve, die Große, und Beate und Hartwig und Fadil. Fadil, denkt sie dann, was mit Fadil ist?
Sie fährt ruhig und in sich versunken, zufrieden, weil es alles gut ausgegangen ist mit dem Kleinen, zufrieden, weil er so ist, wie er ist, zufrieden auch, weil sie alle vier in einem Auto sitzen, gemeinsam auf den wunderschönen, riesigen Berg zufahren, an dessen Fuß ihre Urlaubshütte steht. Eine Hütte, schöner und größer als ihre Wohnung.
Sie weiß, sie merkt, Danilo fehlt sein Arbeitszimmer. Er will seinen schwarzen Tee und seine Arbeit. Er sitzt auf der Wiese oder läuft einen Spazierweg entlang, als wäre er verkehrt, er fährt mit ihnen zu einer Burg oder einem Kloster, sie stehen herum und essen Eis, aber es bringt nicht das Glück herbei, irgendwie nicht. Dennoch ist sie jetzt froh. Sie haben Urlaub, und morgen früh holen sie warme Brötchen und frühstücken, so wie jeden Morgen in ihrem Urlaub. Man muss es nur wissen und ganz genau darüber nachdenken, wie schön es ist, denkt sie, man muss ganz, ganz fest daran denken, damit man nicht böse wird und ungerecht. Danilo ist nichts vorzuwerfen, nichts.
«Morgen sollten wir besser nicht wandern, mit Martin», sagt sie später im Bett, im karierten Bettzeug, ein Buch in der Hand, immer nur einen Absatz lesend, denkend, lesend, denkend, ohne weiterzukommen. Obwohl sie nie gewandert sind, allenfalls spazieren gegangen, mit einem hölzernen Handwagen, in dem Martin auf einem Kissen saß und manchmal einschlief, während sein dicker Kopf vornüberbaumelte.
«Ich gehe vielleicht mal alleine los», sagt Danilo. «Ich will hoch auf den Berg. Mit euch schaffe ich das nicht. Und wenn ihr sowieso nicht könnt morgen, dann gehe ich vielleicht mal alleine da rauf.»
Sie sagt nichts dazu. Sie sieht Danilo auf dem Berg stehen, groß, mit seinem kühnen Gesicht, seiner Brille, seinem langen Körper. Er kann ja auch nichts dafür, dass er so gewachsen ist und auf den Berg raufmuss, es ist sein Wesen, das so ist. Und der Arzt fällt ihr ein, mit seinem angewärmten Kühlkissen, mit seinem grünen T-Shirt, wie ungeheuer freundlich an so einem heißen Tag mit seinen eigenen Schmerzen.
Anfang September, es ist noch warm, die Wohnung dampft von der Hitze, von hartnäckigen Essensgerüchen, von Kinderbaden und Schlaftrunkenheit, Merve und Martin liegen wach in ihren Betten, und Ava stellt den letzten abgetrockneten Topf in den Schrank, als Fadil auftaucht. Er trägt einen neuen, weißen Sommeranzug, er lächelt über sein ganzes braun gebranntes, stoppeliges Gesicht, und er umklammert zwei größere Geschenkpakete für die Kleinen.
«Fadil!» Ava hält das Geschirrtuch noch in der Hand. Sie trägt dünne kurze Shorts, eigentlich eine längere Unterhose, und ein schmutziges weißes T-Shirt, wegen der Hitze und weil sie gleich duschen wollte. Sie ist verschwitzt, auf ihrer Stirn jucken Schweißperlen, und da steht Fadil, frisch, sauber und duftend, mit Geschenken.
Danilo kommt von hinten aus seinem Arbeitszimmer und starrt Fadil an. «Mensch», sagt er und lächelt verkrampft.
Fadil stapft durch ins Kinderzimmer. Merve ist schon aus ihrem Bett gesprungen, um die zu erwartenden Geschenke in Empfang zu nehmen. Martin sitzt verschlafen auf seinem Kopfkissen, einen Nuckel im Mund, mit verschwitztem Haar, einen Zipfel der Bettdecke noch in der Hand. Eine «Bob der Baumeister»-Kassette dreht sich munter im farbigen Plastikrekorder auf dem Kindertisch. Die Stimmen erzählen leise vor sich hin, Martin ist hypnotisiert von den Stimmen, er schläft immer ganz schnell ein dabei. Ava weiß, dass sie besser vorlesen sollte, aber wann dann die Töpfe abwaschen? Und beim Vorlesen passiert immer Folgendes: Sie wird todmüde und schläft fast ein. Sie kann kaum noch aufstehen und Töpfe abwaschen oder duschen oder sich die Haare kämmen und die Zähne putzen. Im müden Kinderzimmer vorlesen ist eine ganz schwierige Sache, wenn danach der Abend noch nicht zu Ende ist. Manchmal liest Danilo
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