Eheroman (German Edition)
Schultern.
«Geh. Er wartet doch.»
Ava zieht die Schultern hoch, schlägt die Arme um ihren fröstelnden Körper und geht zu Konstantin. Konstantin fährt einen fetten, alten Daimler, beige mit hellen Ledersitzen, Ava ist öfter mitgefahren und hat den Geruch nach altem Leder und Zigaretten eingesogen, sein lächerlich altmodisches Aftershave, die Musik von Buddy Holly, alles alt und verbraucht und rührend elegant in seiner Überholtheit. Er hat leuchtende Augen. Bei alten Leuten verblasst sonst alles, denkt sie, aber bei Konstantin leuchten die Augen heute blauer denn je. Es kann der blaue Himmel mit der blassen Wintersonne sein, der sich spiegelt und alles einfärbt und die Intensität seiner Augen verdoppelt.
Sie schweigt eine Weile, und Konstantin schweigt auch. Konstantin kann gut schweigen, ihn treibt nie etwas an zu reden, er übt Druck eher durch Schweigen aus. Seit Barbara zu krank zum Theaterspielen geworden war, sahen sie sich nicht mehr. Die anderen, die Jüngeren aus der Gruppe haben wieder angefangen zu spielen, aber Ava nicht mehr, und Merve nicht mehr, und Konstantin auch nicht mehr. Das Theaterspielen fand ein Ende, weil ihnen klar geworden war, dass Barbara der Mittelpunkt und der Kern ihres Theaterspielens gewesen ist.
«Ava», sagt Konstantin dann schließlich und drückt Ava, für sie ganz unerwartet, weil unüblich zwischen ihnen, an sich. Wegen dieser unerwarteten warmen Umarmung muss Ava dann doch noch weinen, wegen seines Mitleids und wegen seiner Umarmung.
Merve liegt auf dem Bauch auf ihrem Bett und sagt: «Ich hasse Sophie. Ich hasse so Sophie.» Sie trägt immer noch ihren roten Anorak, dazu ihre schmutzbespritzte Jeans, und ihre Stricksocken hängen von den Zehenspitzen herunter. Im Zimmer verteilt liegen Hefte wie Bravo und Mickymaus, Schulbücher, Stifte, T-Shirts, Unterwäsche, iPod, jede Menge Kabel und Krümel von Keksen, ein rosa Hase, bekleidet mit einer winzigen Jeanshose, die Merve einst selber genäht hat, eine nackte Babypuppe, ein zerschrammtes Skateboard, Perlen und Schnüre, Wolle, ein Häkelhaken, eine offen stehende Dose mit angebissenen Salamibroten und andere farbenfrohe Gegenstände aller Größen und Beschaffenheit. Die Heizung ist aufgedreht, das Fenster geschlossen, und im Zimmer steht ein feucht-muffiger Geruch.
Merve schlenkert mit den Beinen hoch und runter, rollt sich dann auf die Seite und starrt Ava an, die seufzend vom Türrahmen aus das Zimmer betrachtet. Die rosa Wanduhr, die keine gültige Uhrzeit mehr anzeigt, tickt langsam auf der Stelle, der Zeiger zittert in einer menschlich anmutenden Anstrengung und schafft es doch nicht zur nächsten Ziffer. Es klackt, und der Zeiger steht wieder auf zwei Uhr, wie schon seit Tagen. Die Batterie muss ausgewechselt werden. Wie viel Energie dann aber doch noch in einer schwachen Batterie drin ist, überlegt sich Ava, denn tot ist die Uhr noch nicht, nur schwach und tickt immer auf zwei Uhr.
«Merve, räum endlich dein Zimmer auf!», sagt Ava in strengem Ton und überdenkt, ob sie es richtig ausgedrückt hat. «Würdest du bitte aufräumen?», hat sich nicht bewährt, weil Merve dann ziemlich sicher mit «Nein» antwortet. Wer kann es ihr verdenken? Auf eine Frage folgt die passende Antwort. Und die Frage ist ja eigentlich als Frage auch gar nicht gedacht gewesen, sondern stellt eine hinterhältige, weil höflich verkleidete Form von Befehl dar. Wenn es aber so ist, hat Ava erkannt, dann kann sie auch gleich den Befehl auf den Tisch knallen. Merve allerdings liegt immer noch zusammengerollt auf ihrem Bett, wie ein rundes, rotes Tier, und schleudert ihren Missmut in das Zimmer und auf Ava rauf. Die autoritäre Ansage ignoriert sie.
«Sophie, die ist so fies, ich hasse sie», sagt sie wieder und zieht sich den schlabbrigen Stricksocken vom Fuß und juckt sich an den Fußsohlen.
«Was hat sie denn gemacht?», fühlt sich Ava verpflichtet zu fragen, obwohl sie diese Frage von dem Aufräumbefehl fortträgt an andere, mitleidigere Gestade, sie weiß es schon.
Merve schweigt wieder. Sie weiß, wie sie ihre Launigkeit präsentieren und ausleben kann, sie runzelt ihre kleine glatte Stirn und pult jetzt auch am anderen nackten Fuß, den sie zu diesem Zweck an ihren Körper heranzieht, sie sammelt die Wollfusseln von den Zehen und wirft sie auf den Fußboden zu all dem anderen Kram.
«Mir ist es eigentlich auch egal. Hauptsache, du räumst endlich diesen Dreckstall auf!», sagt Ava etwas lauter und bereut das Wort
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