Eheroman (German Edition)
Dreckstall sofort, das schon ihre Mutter benutzt hatte und das sie eigentlich nicht selber benutzen wollte, weil es ein demütigendes, abwertendes Wort für Merves Zimmer ist.
«Immer schreist du rum», fängt Merve jetzt an, in einem jammernden, hohen Ton, den sie immer einsetzt, wenn sie unwillig und unzufrieden ist. «Und nie hörst du mir zu. Wenn ich mal Probleme habe, dann interessiert es dich nicht. Nur bei Martin. Bei dem hörst du immer zu. Obwohl der gar keine richtigen Probleme hat.»
«Das stimmt überhaupt nicht. Ich höre zu. Ich wollte zuhören, aber du hast ja nichts gesagt.»
«Ja, weil …» Merve fängt an zu schluchzen.
Sie ist erst neun, und sie ist schon so. Wie wird sie sein, wenn sie fünfzehn ist? Ava setzt sich zu Merve auf das Bett und zieht an ihrem Anorak herum. «Zieh mal aus. Das ist doch höllenwarm hier drin.»
Merve richtet sich auf und schnieft und lässt sich bereitwillig den Anorak ausziehen. Ihr kleiner, schmaler Mädchenkörper mit dem bekleckerten weißen Blüschen über dem Rolli duftet unter der dicken Jacke ein wenig schwitzig und süß nach ihr. Ava ist immer noch überwältigt von dem Geruch. Sie legt sich neben Merve auf das Bett und drückt sie an sich wie ein Duftkissen, drückt ihre Nase in Merves Brustkorb. Merve wehrt sich und kichert.
«Mama, lass das», sagt sie, lächelt aber und wischt sich die Tränen ab.
«Hat dich die Sophie geschlagen?», fragt Ava, wohl wissend, dass es um solche Dinge nicht geht. «Hat sie mein kleines Mädchen geschlagen, die bösartige, hinterhältige Sophie?»
«Nein doch», sagt Merve. «Aber sie hat Josefine zu ihrem Geburtstag eingeladen.»
«Nein, so was Böses auch!», sagt Ava.
«Mama, du bist doof!», sagt Merve. «Ich erzähle dir gar nichts mehr.»
«Ach, erzähl es bitte, ich schwöre dir, ich höre jetzt auch zu.»
«Du darfst nichts sagen.»
«Ich sage nichts. Ich bin stumm.» Ava legt den Kopf an Merves Kopf und ihren Arm um Merves Körper und könnte vor Wärme und Wohlbehagen summen wie eine Biene. Aber Merve summt selbst wie eine Biene, sie summt Mädchengeschichten, kleine, biestige, wunderhübsche Mädchengeschichten, die die Welt im Großen schon vorwegnehmen, die die Sorgen im Kleinen schon proben und ein bisschen aufplustern und aufblasen und die für Merve schwer genug wiegen.
«Sophie hat zu mir gesagt, als wir beim Eisladen waren, wir sollten Josefine nicht zu unserem Geburtstag einladen, weil Josefine immer mit den Jungen bei dem Tischtennis steht und sagt, dass wir Streber sind bei Frau Haake. Das stimmt aber gar nicht, sie sagt es nur, weil Sophie und ich und Veronique Frau Haake beim Abräumen geholfen haben, weil sie keine Zeit hatte, weil sie zur Pausenaufsicht musste. Justin hat dann aber gesagt, wir machen es nur, weil Frau Haake uns dann Einsen gibt für die Collargenbilder.»
«Collagen meinst du», sagt Ava.
«Collagen, ja. Josefine stellt sich immer zu den Jungen beim Tischtennis, weil Mark da auch steht, und sie sagt immer alles, was der sagt, und deshalb wollten wir sie nicht zu unserem Geburtstag einladen. Sophie hat es mir beim Eisladen geschworen, dass sie Josefine nicht zum Geburtstag einlädt, wenn ich das auch nicht mache. Und jetzt habe ich sie nicht zu meinem Geburtstag eingeladen gehabt. Und jetzt …» Merve schluchzt. «Jetzt hat Sophie Josefine aber zu ihrem Geburtstag eingeladen. Sie hat es mir erst gar nicht gesagt. Sie hat gelo-gen, die ganze Zeit! Und jetzt ist Josefine doch wieder ihre Freundin und nicht mehr meine. Ich hasse sie, alle beide!»
Die Trauer und die Wut bahnen sich ihren Weg durch Merves süßen kleinen Körper. Ava hat auch keine Idee, wie nun zu verfahren ist. Sie streicht Merve über das feuchte Köpfchen und sagt: «Hast du mit Sophie darüber geredet?»
Merve schüttelt den Kopf. «Nein.»
«Dann weiß Sophie also gar nicht, dass du mit ihr sauer bist?»
Merve zuckt mit den Schultern.
«Ich würde sie mal richtig anschreien. Mal richtig die Meinung ins Gesicht schreien. Und ich würde nicht zu ihrem Geburtstag gehen. Kann sie doch mit der Josefine alleine feiern.»
Merve runzelt wieder ihre glatte Kinderstirn. «Da kommen ja noch andere», sagt sie müde und überlegen und leicht abwinkend. «Denkst du, da sind nur wir?»
«Nein. Gar nichts denke ich. Ich meine nur. Ich würde sie mal richtig anschreien.»
«Mama!» Merve lächelt mit verträntem Gesicht und schaut ihre dumme Mutter wieder überlegen an. «Was redest du immer für
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