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Eheroman (German Edition)

Eheroman (German Edition)

Titel: Eheroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Seddig
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Haribo-Lakritz-Mischung und sieht ab und an zu ihr herüber. Sie liest in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», die sie an einer Tankstelle bekommen hat, an der es internationale Zeitschriften gab. Türkische, spanische, deutsche. Für Lkw-Fahrer und Reisende. Sie liest einen Bericht über die Probleme der Ostdeutschen mit den Westdeutschen und umgekehrt der Westdeutschen mit den Ostdeutschen. Eine ostdeutsche Lehrerin beklagt die neuen Stundenpläne, ein westdeutscher Rentner befürchtet, dass sein Geld alle wird, die Früchte seiner Arbeit. Eine Frau ist von Frankfurt an der Oder zu ihrer Schwester nach Frankfurt am Main gezogen, hat sich mit ihr entzweit und ist dann wieder nach Frankfurt an der Oder gezogen. Alles ist schwierig. Ava hat keine Meinung. Sie ist nie im Osten gewesen, sie hat keine Verwandten im Osten, und sie wollte bisher auch nicht dorthin. Der Vater und die Mutter, die Eltern, sind sich einig. Es sind Menschen wie wir, nun kommt es alles in seine Ordnung, auch wenn es Probleme gibt, aber es kommt alles in seine Ordnung, und es gehört nicht darüber gemeckert, auch nicht über Helmut Kohl, den Kanzler der Einheit. Danilo sieht das anders. Danilo hat sich sehr darüber aufgeregt, dass Helmut Kohl wieder Bundeskanzler geworden ist. Gemeinsam haben sie sich damals die Wahlen im Fernsehen angesehen, und als die Ergebnisse der Auszählungen immer mehr für die CDU sprachen, saß er still und wütend auf dem Sofa. Er sagte dann und wiederholte es mehrmals, das wäre ja klar gewesen, das wäre ja klar gewesen, wie die mit dem Kohl jetzt die deutsche Einheit für sich nutzen können. Danilo ist bei den Bundestagswahlen sechzehn gewesen, er konnte noch nicht einmal wählen, er ist der einzige Mensch, den Ava kennt, der sich überhaupt so dafür interessiert hat. Außer dem Vater vielleicht, der sich still und sehr am Rande die Wahlen angeschaut hat, ohne dass es ihn erregt hätte. Als wäre das alles sehr weit von ihm entfernt und würde ihn nicht betreffen. Ava selbst hätte auch nie Interesse an Politik entwickelt, wenn nicht Danilo sie in diese Dinge hineingezogen und sie mit seiner Aufregung angesteckt hätte. Auch sie saß 1990 auf dem Sofa und hoffte und regte sich auf. Jetzt ist alles geklärt. Jetzt ist Deutschland ein Land, und die Leute können sich treffen, wenn sie wollen, zusammenziehen, sich wieder trennen und zurückgehen, aber das beweist gar nichts. Das ist normal und beweist nicht, dass es nicht geht. Am Ende wird es irgendwann gehen, und es wird keinen Osten und keinen Westen mehr geben, nur Reiche und Arme, das ist alles, da verläuft die Grenze, wie schon immer, das hat der Vater auch dazu gesagt, und er hat meistens recht in solchen Dingen.
    «Ist was Interessantes?», fragt Stulle über sein Lenkrad hinweg.
    «Über Osten und Westen und wie es so ist, für die Leute.»
    «Und wie ist es?»
    «Ach, das steht hier eigentlich nicht. Nur, was einzelne Leute so sagen, die beklagen sich eigentlich alle.»
    «Ich komm auch aus’m Osten», sagt Stulle.
    «Du – kommst aus dem Osten?»
    «Ja», sagt Stulle.
    «Das hätte ich gar nicht gedacht», sagt Ava.
    «Wieso gedacht? Weil ich nicht so aussehe, oder was?»
    «Nein, nein. Das wollte ich nicht sagen. Ich kenn nur keinen aus dem Osten. Und du hast es nicht gesagt.»
    «Wieso denn? Was gibt es denn dazu zu sagen? Ich bin doch immer noch der Gleiche. Wenn du mich gefragt hättest, wo ich herkomme, dann hätte ich dir gesagt, aus Richtenberg bei Grimmen in Mecklenburg, das liegt im Osten, Fräulein, das hätte ich jedenfalls gesagt, aber so ist es doch egal, oder?»
    «Ja, klar. Ich finde es ja auch nicht schlimm. Nur, ich kenne niemanden aus dem Osten. Und wie ist es jetzt so für dich?»
    «Siehst du doch. Ich fahre nach Portugal, keine Grenzen, nichts. Super, nicht?» Er lacht.
    «War das dein Traum, Lkw fahren in andere Länder?», fragt Ava vorsichtig.
    «Ich hatte gar keinen Traum. Ich habe Schlosser gelernt und bin dann abgehauen, weil mir einer, Jensen nämlich, der Freund von deiner Freundin, der hat mir gesagt, ich soll hinkommen, die suchen einen, der Lkw fahren kann, und ich konnte es noch von der Armee her, da bin ich die Transporter gefahren, mit Munition, und ich bin dann abgehauen, da geht ja alles den Bach runter. Meine Alten sitzen zu Hause und sind krank, weißt du ja, mein Vater im Rollstuhl, seit er gestürzt ist, und die anderen da, von der Schule, die ich noch kenne, warten auf irgendwas. Aber warten bringt

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