Ehre sei dem Vater (German Edition)
meisten liebte sie die Kindertüten mit den
kleinen Spielzeugüberraschungen von einem Fastfood-Anbieter. Ihr Vater war andauernd
zu Späßen aufgelegt und sie hatte die Zeit mit ihm immer sehr genossen. „Daran
hätte sich bestimmt nichts geändert, wenn ihn die Alte nicht hinausgeekelt
hätte!“, dachte sie, als sie die schwere Messingtürklinke zur Küche leise nach
unten drückte.
Das war der einzige Raum im Haus, der in den
letzten Jahren nicht von ihrer Mutter verändert worden war. Marie war sich
sicher, dass diese Veränderungen die Erinnerungen aus der Vergangenheit einfach
ausradieren sollten. Das war typisch für Verena: Alles Unangenehme wegwischen -
nur eine Tochter konnte man leider nicht so leicht entfernen.
„Weshalb schleichst du nachts dauernd in der
Küche herum?“, hatte die Alte sie schon öfters gefragt, dabei wusste sie ganz
genau, was Marie hier trieb. Diese Verschlagenheit war es, die Marie am meisten
in Rage brachte. Warum musste sie immer so saublöde Fragen stellen, wenn sie
die Antworten doch ohnehin kannte?
Marie knipste das Licht an und warf einen
Blick auf den sorgfältig aufgeräumten Raum. Ihre Großmutter legte einen
gesteigerten Wert auf Ordnung in Küche, Bad und WC. Marie musste bei dem
Gedanken an Omas Atelier oder an ihr Wohnzimmer lächeln. „Wo man wohnt, soll
man auch leben dürfen“, pflegte sie
zu sagen, „es braucht nicht überall wie geleckt auszusehen!“ Mit diesen Worten verteidigte sie auch die Unordnung
in Maries Zimmer vor Verena.
Die Küche war ein nicht besonders großer,
länglicher Raum, der fast ausschließlich in Buchenholz gehalten war. Mit seinem
leicht rustikalen Touch erinnerte er an die
Herrschaftsküchen in den alten Heimatfilmen. Obwohl sowohl die Größe als auch
die vielen bewusst eingebauten modernen Elemente aus Edelstahl dieses Bild
nicht bestätigten. Die Ober- und Unterkästen mit den Einbaugeräten waren in
einer U-Form angeordnet. Auf der gegenüberliegenden Seite des gestreckten
Raumes befand sich eine gemütliche Eckbank mit einem runden Esstisch. Durch die
Dachluke über dem Küchenblock und durch ein überdimensional großes, die ganze
Querseite umfassendes Fenster wurde der Raum tagsüber freundlich erhellt. Im gedämpft
gedimmten Licht wirkte der ganze Raum noch harmonischer und gemütlicher als am
Tag.
Auf der Anrichte stand noch eine Auflaufform,
abgedeckt mit einem Teller. Heute Mittag hatte Großmutter hier wieder einmal Maries
Lieblingsgericht gekocht – Lasagne. Eigentlich hätte der Rest wohl in der
Tiefkühltruhe landen sollen, aber das hatte sie wohl vergessen. Umso besser. Die
Lasagne war zwar vollkommen kalt, aber das störte sie nicht. Sie wärmte sich
die Speisen, die sie aus der Reihe aß, nie auf, ebenso wenig wie sie sich die
Zeit nahm, Besteck und Teller zu holen oder etwas zu trinken. Wenn keine
fertigen Speisen herumstanden, schnitt sie häufig nur dicke Brotstücke ab,
öffnete die Kühlschranktür und nahm wahllos irgendwelche Fressalien heraus.
Streichwurst wurde mit den Fingern aus der Dose genommen und abwechselnd mit Brotstücken
in den Mund gestopft. Dazwischen langte sie ins Gurkenglas. Sie aß wahllos
Schinken, Würstchen, Marmelade, Käse, Speck, Schlagobers, Tomaten, kalte
Kartoffeln oder was sich sonst noch so im Kühlschrank befand in sich hinein.
Dabei ging es überhaupt nicht darum, ein schönes, gepflegtes Essen zu
zelebrieren, wie es ihre Mutter gerne tat. Maries Genuss war ein anderer: Sie
füllte sich auf und hatte für einige flüchtige Momente die Leere in ihrem
Inneren vertrieben. Wohligkeit und Wärme breiteten
sich in ihr aus. Sie hatte gehört, dass Bulimiekranke sich nach solchen Fressattacken übergeben, doch sie dachte nicht einmal daran freiwilliges
Erbrechen herbeizuführen, obwohl sie sich manchmal schämte und unglücklich war
über ihre Figur. Das würde ihrer Alten so passen, dass sie sich auch noch
ankotzte! Dann könnte sie wieder mit ausgestrecktem Zeigefinger auf sie zeigen:
„Ich hab’s dir doch gesagt!“ Sie nörgelte ohnehin dauernd über ihre Figur.
„Sieh dir nur an, wie du aussiehst! Glaubst du, so wirst du jemals einen
anständigen Mann abkriegen?“, hatte sie letztens gesagt. Als ob gerade sie in diesen Dingen mitreden könnte.
Zuerst hatte sie Papa vertrieben und dann hat sie einen Liebhaber, der sich
nicht einmal offen zu ihr bekennt. Die Alte glaubte vielleicht, Marie hätte von
diesem Typen nie etwas bemerkt, aber da irrte sie sich. Wie oft hatte sie
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