Ehre sei dem Vater (German Edition)
Armbanduhr. Die schwere braune Kutte wehte bei jeder
seiner Bewegungen. Durch das Sprossenfenster zum Hof fiel das gedämpfte Licht
der Abendsonne in den Raum und warf einen geisterhaften Schatten des Kapuziners
an die Wand. Franz beobachtete ihn mit steigender Unruhe. Er konnte sich nicht
vorstellen, was in dem Mann vorging. „Warum sollte der Erpresser, der allem
Anschein nach dringend Geld benötigt, nun zu ihrer Familie laufen und alles
umsonst ausplaudern?“, fragte der Kirchenmann schließlich, nachdem er abrupt
stehen geblieben war.
„Wo bist du? Verdammt noch einmal!“ stieß sie
leise aus. Wieder war der Anruf beim Gendarmerieposten so gut wie umsonst gewesen. Es gab zwar immer wieder Andeutungen, dass Franz
angeblich von allen möglichen Leuten gesehen worden wäre, aber keiner der
Hinweise hat die Arbeit der Gendarmen auch nur ein kleines bisschen
vorangebracht. Eine Spur hatte sogar nach Italien geführt. Eine junge Frau
wollte Franz nach dem Foto, das nun in sämtlichen österreichischen
Tageszeitungen erschienen war, erkannt haben. Der betreffende Mann wurde in
Mailand ausfindig gemacht. Er hatte wirklich beachtliche Ähnlichkeit mit
Barbaras Vater, sprach nur leider kein Wort deutsch und hatte drüber hinaus zwei gesunde Beine.
Die meisten Hinweise kamen aber direkt aus
dem Ort. Niemand war ganz sicher, ob er Franz nicht doch schon vor seinem
„offiziellen“ Verschwinden gesehen hatte. Laut Angaben von Inspektor Schwarz
wurde jedem Hinweis konsequent nachgegangen, was zwar beruhigend klang, für die
Familie aber bei weitem nicht zur Entspannung ausreichte. Anna Seidl lag nach
wie vor im Spital. Sie wurde ständig mit Tabletten ruhig gehalten und war
dadurch wieder in einer sehr viel besseren Verfassung. Die Ärzte wollten aber
nicht riskieren, sie in häusliche Obhut zu überlassen. „Ist bestimmt viel
besser für sie“, dachte Barbara. Sie wusste, dass sie in diesen Tagen nur
schwer eine echte Stütze für ihre Mutter sein konnte. Es fiel ihr schon schwer,
vor den Kindern die Starke zu mimen, zuversichtlich zu sein und ihnen Trost zu
spenden. Sobald einer heulte, ermahnte sie ihn streng, dass der Großvater
schließlich nicht gestorben sei. Sie selbst, sagte sie, würde ihn zwar auch
sehr vermissen, aber für richtige Traurigkeit bestehe nun wirklich kein Anlass.
„Stellt euch einfach vor, Opa ist im Urlaub! Wir alle gönnen ihm diesen und
freuen uns schon wieder auf seine Rückkehr!“ Sie wäre heilfroh gewesen, wenn
sie tief in ihrem Inneren dieselbe Zuversicht aufbringen hätte können. Abends
musste sich Manfred all die versteckten Ängste und Sorgen von ihr anhören. Sie
konnte zurzeit nicht ertragen, dass er auch nur einen einzigen Abend nicht im
Haus war. Herrenabende, die sie ihm ansonsten gerne gönnte, waren für einige
Zeit gestrichen, sie brauchte ihren Mann jetzt mehr denn je. Unzählige Male
hatte er sich schon anhören müssen, dass vielleicht doch sie, wegen ihres blöden Streits,letzten Endes Schuld an Franz’ Verschwinden tragen würde. „Der mürrische
alte Herr kann einem ganz schön fehlen!“, schluchzte sie.
Julian ging mit gesenktem Kopf und ohne auf
den Verkehr zu achten in Richtung Esslinger Burg. Im Augenblick war Bewegung
das einzige Mittel, nicht den Verstand zu verlieren. Autos, Busse und
Motorräder fuhren viel zu schnell an ihm vorbei. Die gesamte Stadt schien
unterwegs zu sein, konzentriert auf den bevorstehenden Abend. Dasselbe hatte er
selbst ebenfalls jeden Nachmittag getan, bevor sein Vater verschwunden war. Schon
der Morgen hatte jeden Tag gleich begonnen. Das war so routinemäßig und bequem gewesen
wie ein Paar gut eingelaufener Schuhe.
Im Moment erschien ihm nichts
erstrebenswerter als Routine. Täglich um dieselbe Zeit aufstehen, duschen,
frühstücken und dann die Fahrt ins Krankenhaus. Das Mobiltelefon immer in
Reichweite, der Anblick immer tröstlich, egal ob es läutete oder nicht.
Das Handy in seiner Tasche wurde ihm wieder
bewusst. Hätte er jemanden anrufen sollen? Die Mutter vielleicht, im
Krankenhaus? Er hätte ihr erzählen müssen, dass ihr Mann sie über all die Jahre
immer nur belogen hatte, ohne ihr die Erklärung, warum das so gewesen war,
geben zu können. Oder hätte er Barbara anrufen sollen, um ihr zu sagen, dass er
noch nichts Näheres über das Verschwinden des Vaters wusste? Er fühlte sich
erschöpft. Die großen Hoffnungen, die er in das Gespräch mit Robert Millner -Rubens gesteckt hatte, waren herb enttäuscht
worden.
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