Ehre sei dem Vater (German Edition)
Warum hatte der Mann plötzlich auf stur geschaltet? Nun hatte er zwar
erfahren, dass es Dinge gab, die sein Vater verschwiegen hatte, was er ohnehin
schon geahnt hatte, aber wirklich schlauer war er deswegen nicht. Wo konnte der
sture Kerl nur stecken? Der Zorn auf Franz gewann wieder einmal die Oberhand.
Mich verurteilt der alte Herr, aber was hat er selbst auf dem Kerbholz, wenn er
nicht einmal seiner Frau die Wahrheit eingestehen kann? Trotz allem hatte
Julian es nie geschafft, ihn zu hassen. Im Gegenteil, er fühlte sich schuldig. Am
meisten litt er darunter, durch die ganze Sache seiner Heimat beraubt worden zu
sein. „Und als Dank dafür, bin ich nun hier, um ihn zu suchen!“ Julian
schüttelte energisch den Kopf. Die plötzliche Traurigkeit, die ihn jedes Mal überfiel,
wenn er daran dachte, dass Franz etwas Schlimmes zugestoßen sein könnte, war
Grund genug, zu wissen, dass er ihm insgeheim verziehen hatte. „Was muss bloß
passieren, dass man seinen Vater so verachtet, dass man ihn für tot erklärt?“
Tausend Fragen schossen ihm durch den Kopf, während die Stadt um ihn herum noch
lebendiger wurde. Den Straßenlärm hatte er bereits hinter sich gelassen. Er
befand sich wieder auf dem schmalen Fußweg zur Burg. Die Musik war in der
Zwischenzeit lauter und rhythmischer geworden. Die jungen Leute, die ihn auf
den Katharinen -Stufen überholt hatten, stimmten
ausgelassen in die Melodien ein. Das Fest auf der Burg schien nun seinem eigentlichen
Höhepunkt entgegen zu gehen. Als er diesen Platz vor zwei Stunden verlassen
hatte, war nur eine kleine Tribüne aufgebaut gewesen und die Menschen schienen
sich kaum um die Musik zu kümmern. Viel wichtiger war wohl das Hungergefühl,
das es zu stillen galt. Inzwischen war eine weitere, noch größere Tribüne am
westlichen Ende des Platzes, die weitum zu sehen war, in Betrieb genommen
worden. Die Band, ein paar reifere Männer, die wohl die Midlifecrises bereits hinter sich hatten, spielte gerade einen alten Hit von Udo Lindenberg. Davor
hatte man eine Tanzfläche aufgebaut, die bereits von zahlreichen Pärchen
genutzt wurde. „So etwas gibt’s wohl auch nur bei den Deutschen. Bei uns würde
kaum jemand auf die Idee kommen zu tanzen, während die Sonne noch gnadenlos auf
die erhitzten Häupter niederbrennt“, dachte er. Die lebhafte Szenerie verwirrte
ihn ein wenig, und er hatte Mühe die Orientierung wieder zu finden. Als sein
Blick über die Menge streifte, erhoben sich vier überschwänglich winkende Hände
vom hinteren Ende einer großen Menschentraube. Anscheinend hatten seine
Freundinnen die Zeit genutzt, um sich zu amüsieren.
Millner -Rubens saß an dem kleinen
Schreibtisch in seinem Schlafzimmer. Er trug Pantoffeln und einen Schlafrock
aus glänzend roter Seide, in dem er mit seinem schlanken Körper, den kurzen
dunklen Haaren und den komplett ergrauten Schläfen beinahe wie ein römischer
Feldherr aussah. Vor ihm lagen aktuelle Ausgaben der weltweit größten
Tageszeitungen, die alle über die tragischen Ereignisse einer Umweltkatastrophe
in Amerika berichteten. Rechts vor ihm lief in einem kleinen Fernseher eine
Live-Übertragung von CNN, in der gezeigt wurde, wie Soldaten in eine
überflutete Stadt einrückten. Sie sollten beim Abtransport der Opfer mithelfen,
deren Zahl noch immer stieg. Noch heute Morgen war er tief betroffen über den
Zeitungen gesessen, hatte sich interessiert die neuesten Fernsehberichte
angesehen, doch nun drangen die tragischen Ereignisse nicht mehr bis zu ihm
vor. Millner -Rubens sah zu seinem Bett hinüber.
Eigentlich hatte er sich für ein Nachmittags- Nickerchen hinlegen wollen, aber er wusste ohnehin, dass es unmöglich wäre, jetzt zu
schlafen. Also beschloss er, eine kleine Runde um den Häuserblock zu gehen.
Nachdem er einen seiner schlichten grauen Anzüge, die er zu seiner aktiven
Berufszeit fast rund um die Uhr getragen hatte, angezogen hatte, verließ er das
Haus. Er ging etwa eine Stunde. Vorbei an schmutzigen, lärmenden Kindern,
entlang einer schmalen Seitenstraße gelangte er in ein feudales Viertel mit luxuriösen
Apartmentgebäuden und Stadthäusern zwischen weitläufigen Gärten. Am westlichen
Ende der Gasse lag der Friedhof. Hierher war er schon unzählige Male gegangen.
Umrahmt von Birken und unzähligen anderen Laubbäumen führte sein Weg vorbei an
zahllosen Marmor- und Steinstatuen zum Grab seines Vaters. Auf diesem Friedhof
gab es keine billigen Grabsteine oder gar Holz- oder Eisenkreuze. Der
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