Ehre sei dem Vater (German Edition)
war eher eine Seltenheit. Meist tadelte sie sich
selbst am strengsten. Verena persönlich gefielen zwar Evas heitere Verse besser,
aber sie fand das eben Gehörte gar nicht so schlecht. Obwohl ihr im Moment viel
eher nach einem herzzerreißenden Liebesgedicht gewesen wäre. „Toll! Mich
wundert, dass du die ellenlangen Texte im Kopf behalten kannst“, lobte sie und
Eva schien noch ein Stück zu wachsen. Sie meinte, dass es wohl besser wäre,
wenn sie weniger auswendig vortragen könnte und dafür mehr an neuen Texten
schaffen könnte, aber bestimmt würde alles wieder besser laufen, wenn „die
Sache“ überstanden sein würde. Verena nahm an, dass mit „der Sache“ wohl Martin
gemeint wäre, fragte aber nicht nach, weil in diesem Moment die Musik lauter
wurde.
„Sind Sie denn sicher, dass er den Brief
geschrieben hat?“, fragte Bruder Markus.
„Wer denn sonst?“, gab Franz ungläubig
zurück. „Es ist schon ein sonderbarer Zufall, dass just zu dem Zeitpunkt, an
dem ich erpresst werde, ein Mitwisser auftaucht, der zuvor noch nie in der
Gegend war. Außerdem glaube ich nicht an Zufälle.“
„Und sonst gibt es niemanden, der Ihr
Geheimnis kennen könnte?“
„Nicht dass ich wüsste! Sie können mir
glauben, dass ich diese Geschichte nie an die große Glocke gehängt habe, wo
doch nicht einmal meine eigene Familie davon wusste.“
„Trotzdem erscheint mir ihre Version
sonderbar. Warum sollte dieser Mann, der schon seit mehr als vierzig Jahren von
ihrem Geheimnis weiß, ausgerechnet jetzt mit dieser Sache an sie herantreten.
Wie Sie selbst erzählten, ist Ihr Vater schon vor einigen Jahren verstorben. Er
hätte doch gleich nach dessen Tod seine kriminellen Machenschaften ausleben
können. Warum erst jetzt? Für mich ist die Sache nicht stimmig, obwohl ich
natürlich zugeben muss, keine besonderen Erfahrungen in diesem Metier vorweisen
zu können.“ Franz Seidl lehnte den Kopf zur Seite und stützte ihn mit der
rechten Hand auf. Sein Blick war starr auf einen Punkt an der Wand gerichtet.
Der Guardian hatte Recht. Warum hatte Robert ihn nicht schon viel früher
erpresst? „Vielleicht braucht er erst jetzt das Geld, oder er hatte vorher
nicht den Mumm dazu gehabt.“ Er hatte schon unzählige Male sämtliche
Möglichkeiten durchgespielt, ohne zu einem schlüssigen Ergebnis gekommen zu
sein.
Bruder Markus bohrte nach: „Was genau wird in
dem Erpresser-Schreiben von Ihnen verlangt?“ Franz griff in seine Hemdtasche.
Seit seiner Ankunft im Kloster hatte er den Zettel, der inzwischen schon sehr
abgegriffen wirkte, mit sich herumgetragen. Einige Male hatte er bereits überlegt,
ihn einfach in kleine Stücke zu zerreißen oder anzuzünden, damit niemand sonst
hinter sein Geheimnis kommen könnte. Doch er hatte es nicht übers Herz
gebracht. Vielleicht könnte ihm der verdammte Zettel doch noch hilfreich sein. Erneut
beschämt, breitete er den schmierigen Zettel vor sich auf dem Tisch aus. In
großen, aufgeklebten Lettern stand darauf zu lesen:
Ich weiß alles über Esslingen und die Vergangenheit!
Wenn
du willst, dass deine Familie nichts davon erfährt, halte 100.000 Euro bereit.
In wenigen Tagen wirst du erfahren, wohin du das Geld bringen kannst!
„Sie sehen doch
selbst, dass kein Hinweis auf den Erpresser zu finden ist, außer der Erwähnung
der Stadt Esslingen.“ Franz ließ erneut den Kopf sinken.
„Was ich aber nach wie vor nicht verstehe, Franz,
wieso sind Sie geflohen? Gut, jemand wollte von Ihnen Geld haben. Aber zu
diesem Zeitpunkt konnten Sie doch gar nicht wissen, wie ernst die Sache gemeint
war. Warum haben Sie nicht versucht mit dem verdächtigen Mann, den Sie gesehen
haben, zu sprechen?“
„Erstens hatte ich das Geld nicht und
zweitens hätte ich die Schande nicht ertragen. Ich wollte nur weg, wollte mir
das Leben nehmen. Aber wie sie ja wissen, bringe ich nicht einmal das auf die
Reihe.“
„Ich brauch Ihnen nicht noch einmal zu sagen,
dass Selbstmord eine große Sünde ist. Aber noch einmal zurück zu Ihrem
Erpresser: Vielleicht hätte er mit sich handeln lassen? Wer weiß, vielleicht
hätte er sich auch mit weniger als der geforderten Summe zufrieden gegeben?“
„Er hätte immer wieder kommen können, um
erneut Geld zu fordern. Für eine Rückkehr war es zu spät. Der Mann hatte
schließlich bereits mit meiner Frau gesprochen.“ Der Bruder stand auf und ging
mit dem Zettel in Händen im Refektorium auf und ab. Zwischendurch warf er immer
wieder einen Blick auf seine
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