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Ehrenhüter

Ehrenhüter

Titel: Ehrenhüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Gerdts
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könnte sie nichts mehr erreichen. Ihre Augen schauten freundlich, aber dahinter spürte Saliha stets einen düsteren Abgrund.
    Besmas jüngere Schwester Meriam hatte ihnen erzählt, dass Besma schon als Mädchen so war. Als der Vater ihr damals mitteilte, dass sie ihren fünf Jahre älteren Cousin Kemal heiraten würde, hatte sie wochenlang nicht mehr gelacht. Ihre gewohnte Heiterkeit war wie weggeblasen. Bei der Hochzeit hatte sie geweint. Im Dorf hieß es, sie habe einen anderen geliebt. Aber Meriam hielt das für ein böses Gerücht. Besma sei immer eine brave Tochter gewesen. Wie all ihre Geschwister habe auch sie darauf vertraut, dass ihre Eltern eine gute Wahl für sie treffen würden. Und war nicht Kemal Cetin ein guter Mann? Besser als Ibrahim, der Mann von Meriams jüngster Tochter. Dieser Nichtsnutz! Meriam gab sich immer selbst das Stichwort, um endlich in ihr Lieblingsthema einzusteigen, denn ihre Tochter hatte sich den Mann selbst wählen wollen.
    «Und? Was ist dabei herausgekommen? Sie hat einen Mann genommen, der sein Geld verspielt und in der Gegend herumhurt.» Meriams Stimme überschlug sich dann immer vor Wut. Sie hatte ihren Schwiegersohn von Anfang an nicht gemocht. Aber zu ihrem Verdruss hatte ihreTochter sie nicht einmal um Rat gefragt, geschweige denn um Erlaubnis. Als alleinerziehende Frau hatte sie die Heirat auch nicht verhindern können.
    «Ihr seid zu jung, um selbst zu entscheiden», hatte sie Saliha und Nilgün eingeschärft. «Hört auf eure Eltern, und ihr werdet einen guten Mann wie Kemal finden.»
    Die Schwestern widersprachen nicht. Aber Nilgün wollte keinen jungen Kemal an ihrer Seite.
    Flüsternd malten sich Saliha und Nilgün abends aus, wie sie sich ihren späteren Mann vorstellten. Wie er sie in den Arm nehmen und sie zärtlich streicheln würde. Nie hatten sie eine solche Geste bei ihrem Vater gesehen. Möglich, dass er es heimlich tat, wenn keines der Kinder im Raum war. Aber Nilgün glaubte nicht daran. «Er wird
Anne
beschlafen, wenn er Lust dazu hat. Vielleicht denkt er sogar, dass sie es genauso mag wie er. Aber vielleicht ist es ihm auch egal, was sie dabei empfindet.»
    Saliha hätte sich an solchen Abenden am liebsten die Ohren zugehalten. Es tat ihr weh, wie Nilgün über den Vater sprach. Unerbittlich. Distanziert. Die Worte der älteren Schwester legten sich wie dunkle Laken über Saliha, und so sehr sie auch versuchte, sie zu vergessen, hüllten die Worte sie ein. Schließlich umgaben sie sie auch tagsüber, und Saliha fing an, ihren Vater mit anderen Augen zu betrachten. Als kleines Kind hatte sie ihn verehrt, und wenn er einen seiner seltenen Scherze mit ihr trieb, hätte sie alles getan, um ihm weiterhin nah sein zu dürfen. Aber je älter Saliha wurde, desto misstrauischer wurde sie von ihrem Vater beäugt. Kemal Cetin ließ seine jüngste Tochter zur Schule gehen und wie die deutschen Mädchen Sport treiben, aber seine Fragen am Abend hatten weniger etwas Interessiertes als etwas Wachsames.
    Spätestens mit dem Tag, an dem sie zu bluten anfing, sorgte er sich um ihren Ruf. Wenn sie vor seinem Gemüseladen mit Nilgün laut auflachte, befahl er ihnen hineinzukommen. Früher hatte er die fröhliche Art seiner jüngsten Tochter immer gemocht, doch plötzlich quittierte er Gefühle, die sie in der Öffentlichkeit zeigte, mit hochgezogenen Augenbrauen. Seine Töchter sollten nicht die Aufmerksamkeit junger Männer erregen. Sich nicht laut und auffällig hervortun.
    Während ihre deutschen Freundinnen mit ihrer aufblühenden Weiblichkeit provozierten und experimentierten, fing Saliha an, sich zu verstecken. Erst allmählich begriff sie, dass sie ihren Vater besänftigen und zurückgewinnen wollte, indem sie sich für die Jungen unsichtbar machte. Denn sie war nicht so eine. Sie brauchte keinen Tanzkurs, keine Verabredungen im Kino. Was sie wollte, war die Zuneigung ihres Vaters. Dass er sie wieder mit zärtlichen Blicken bedachte und ihr langes schwarzes Haar streichelte. So wie er es früher manchmal getan hatte. Dafür trug Saliha langärmelige T-Shirts im Sommer, flache Schuhe und weite Hosen. Ihr seidiges Haar war gebunden und gebändigt, damit es die Männer nicht erregen konnte.
    Aber der Vater blieb misstrauisch und beobachtete Saliha. So wie er auch Nilgün beobachtete. Und es war ihm sofort aufgefallen, als Nilgün eines Abends noch Reste von rotem Nagellack auf den Nägeln hatte. Er packte ihre Hand und fragte, ob sie jetzt genauso werden wolle wie die

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