Ehrenhüter
Deutschen. Mädchen, die keinen Respekt vor der Familie hatten.
Nilgün hatte die Hand zurückgezogen und dem Vater weisgemacht, die Farbe an den Fingern stamme noch aus dem Kunstunterricht. Nie wieder hatte Nilgün es danach versäumt, den Nagellack gründlich zu entfernen, bevor siesich auf den Heimweg machte. Auf der Mädchentoilette in der Schule wischte sie sich mittags gekonnt den Lippenstift ab, schloss ihre Jacke, bevor sie aus der Straßenbahn trat, und steckte sich die Haare mit zwei langen Spangen hoch.
«Die Deutschen feiern einmal im Jahr Fasching, ich mache jeden Tag Maskerade», spottete sie über ihr eigenes Verhalten. Sie hatte amüsiert geklungen, doch Saliha, die auf dem Bett hinter ihr hockte, sah, wie sich Nilgün im Spiegel verächtlich musterte. «Weißt du, Saliha, was ich glaube?
Baba
hat Angst vor seinen Töchtern. Die Leute könnten reden. Vor allem über ihn, unseren tapferen Ehrenhüter.» Sie schnalzte mit der Zunge und ließ sich auf ihr Bett fallen. «Unsere deutschen Freundinnen haben es gut. Die können nur ihre eigene Ehre verlieren, wenn sie Mist bauen.» Sie verschränkte die Arme hinterm Kopf. «Aber du und ich, kleine Schwester, wir sind dazu verdammt, die Ehre der ganzen Familie zu bewahren.»
Nilgün sprach oft über diese Bürde. Im Nachhinein glaubte Saliha, dass sich Nilgün in den Gesprächen mit der jüngeren Schwester vergewissern wollte, ob es richtig war, was sie tat. Nilgün war auf dem Gymnasium so stark in die deutsche Welt eingetaucht, dass sie ihr Zuhause oft als Gefängnis empfand. Warum durften Osman und Murat am Wochenende bis spätnachts unterwegs sein und tanzen gehen, während die Mädchen zu Hause vor dem Fernseher hocken mussten? Warum erlaubte der Vater Nilgün und Saliha kaum noch, bei deutschen Freundinnen zu übernachten?
Sie spürten den Druck, der auf ihrem Vater wie auf vielen türkischen Familien in der Nachbarschaft lastete, die Töchter zu verheiraten, bevor sie ihre Unschuld verloren. Dafür waren manche der türkischen Väter bereit, die Mädchen ohne Abschluss von der Schule zu nehmen. Undmanche Mütter gaben ihre Töchter früh her, obwohl sie sich ein besseres Leben für sie erhofft hatten. Auch Kemal dachte so. Doch Besma redete und feilschte, bettelte und zeterte so lange, bis Kemal Cetin nachgab und Nilgün auf dem Gymnasium ließ.
Die älteste Tochter war fleißig und lernte oft noch, wenn er abends nach Hause kam. Kemal Cetin begann, sich Nilgüns Zukunft und seine eigene in rosigen Farben auszumalen. Gemeinsam unter einem Dach, mit einem klugen Schwiegersohn, der viel Geld verdiente, einer angesehenen Tochter und den Enkelkindern. Dafür war Kemal Cetin bereit gewesen, gewisse Risiken einzugehen. Als Besma auch für Salihas Schulpläne eintrat, ließ er sie gewähren. Sie waren gute Töchter, und Kemal Cetin war überzeugt, dass sie wussten, was sie der Familie schuldig waren. Doch die beiden Polizisten, die am Freitag bei ihm zu Hause aufgetaucht waren, hatten ihm diesen Glauben genommen.
Prüfend blickte Saliha ihre Mutter an und flüsterte: «
Anne
, bist du wach?»
Einen Moment lang meinte Saliha, das linke Auge ihrer Mutter habe gezuckt. «
Anne
, bitte sprich mit mir», flehte sie so leise, dass die alte Frau im Bett nebenan nichts hören konnte.
Aber Besma hielt die Augen geschlossen.
Müde fuhr sich Saliha mit den Fingern über die Augen. Als sie ihre Hand auf der Bettdecke aufstützte, blieb ein brauner Fleck auf der Baumwolle zurück. Saliha stand auf und ging zum Spiegel. Wenn jemand vom Krankenhauspersonal hereinkommen würde, brauchte sie sich nur etwas vorzubeugen, und die langen Strähnen bedeckten ihre Schwellungen. Den Rest hatte sie mit viel Make-up überschminkt.
Osman hatte sie am Sonntagmittag an der Tür abgefangen, als sie zu ihrer Mutter ins Krankenhaus fahren wollte. Er war wütend und bezichtigte sie, sich ohne Erlaubnis aus der Wohnung stehlen zu wollen. Dann schubste und beleidigte er sie. Aber Saliha wollte zu
Anne
! Wütend versuchte sie, sich an ihm vorbeizudrängen. Doch Osman hielt sie im Flur fest und schlug ihr mit der Faust ins Gesicht. Saliha strauchelte und fiel zu Boden. Zum Glück kam ihr Vater im selben Moment zur Tür herein. Doch statt Osman zur Rede zu stellen, packte er Saliha am Arm und zog sie hoch.
«Wo wolltest du hin?», herrschte er sie an.
«Zu
Anne
», antwortete sie unter Tränen.
«Du hast zu fragen, wenn du die Wohnung verlässt. Merk dir das.» Drohend sah er sie an.
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