Ehrenhüter
Saliha konnte nicht glauben, dass ihr Vater so ungerecht sein konnte.
«Osman hat mich geschlagen», brach es aus ihr heraus.
«Und er wird es wieder tun, wenn du nicht gehorchst! Ich habe euch viel zu viele Freiheiten gelassen. Ihr habt sie ausgenutzt und Schande über unsere Familie gebracht. Die Leute zerreißen sich das Maul, weil Kemal Cetin sich von seinen Töchtern auf der Nase rumtanzen lässt. Ich schwöre, damit ist Schluss, hörst du? Schluss!» Er packte sie an den Schultern und schüttelte sie.
Saliha war klug genug, nicht zu widersprechen. Im Hintergrund sah sie, dass Murat aus dem Wohnzimmer gekommen war. Die Brüder starrten sie an.
Saliha fühlte sich unendlich allein. «Bitte, ich möchte zu
Anne
.»
«Ich kann sie fahren», bot Murat an.
Kemal Cetin zögerte.
«Wenn du willst, hole ich sie auch wieder ab», schlug der älteste Bruder vor. Saliha stand mit gesenktem Kopf im Flur.Offenbar betrachteten die Männer sie nicht länger als Familienmitglied, sondern als Risikofaktor für einen weiteren Ansehensverlust. Die Nachbarn im Haus redeten schon hinter vorgehaltener Hand. Bald, wenn alles haarklein in der Zeitung stünde, wüsste es der ganze Stadtteil.
Nilgün hatte die Männer der Familie Cetin durch ihre heimliche Beziehung mit einem Deutschen bloßgestellt. Saliha, so hatten sie beschlossen, sollte nicht den Hauch einer Chance erhalten, es ihr gleichzutun.
Kemal Cetin fasste Salihas Kinn und drehte ihren Kopf. Er betrachtete den großen, roten Fleck, den Osmans Faustschlag hinterlassen hatte, und befahl: «Geh und mach dir was drüber.» Dann drehte er sich zu seinem ältesten Sohn um: «In zwei Stunden bringst du sie wieder zurück.»
Die Geschwister schwiegen während der Autofahrt. Erst als Murat das Auto auf dem Parkplatz des Krankenhauses abstellte, drehte er sich zu Saliha um und fragte unvermittelt: «Tut es noch weh?»
Sie zuckte mit den Schultern und stieg aus. Wortlos ging sie auf den Eingang zu.
«Ich hol dich in zwei Stunden ab», rief Murat ihr nach. Als er sicher war, dass sie zum Fahrstuhl ging, setzte er sich wieder ins Auto und fuhr davon.
«
Anne
, hörst du mich? Ich bin es, Saliha!»
Nie hatte sie sich einsamer gefühlt. Ihre große Schwester war tot, die Mutter verschwunden in einer anderen Welt, und die Brüder und der Vater standen wie eine Front zusammen und kontrollierten jeden ihrer Schritte. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Sie wischte sie rasch mit dem Handrücken weg. Im selben Moment ging die Tür auf. Es warwieder die Krankenschwester. Diesmal kam sie gut gelaunt hereingeweht. Obwohl die Frau zu den Älteren im Team gehörte, strahlte sie Kraft und Vitalität aus. Als ihr Blick Saliha streifte, stutzte sie. Während sie den Puls der Mutter fühlte, betrachtete sie das Mädchen aufmerksam.
«Und? Wie geht es so?»
Ihre Stimme klang warm. Fast mütterlich. Saliha musste schlucken. «Meine Mutter scheint fest zu schlafen.»
«Das sehe ich. Ich meinte auch nicht deine Mutter, sondern dich.»
Saliha ließ ihre Haare ins Gesicht fallen Und stand auf, um der Schwester Platz zu machen.
Die Frau überprüfte den Tropf, an dem Besma nach ihrem Zusammenbruch lag, verlor dabei das Mädchen aber nicht aus den Augen. Sie meinte die Schwere, die sie ausstrahlte, mit den Händen greifen zu können. Als sich Saliha unbewusst eine Strähne hinters Ohr strich, sah die Krankenschwester die Schwellung unter dem linken Auge. Jemand hatte das Mädchen geschlagen! Einem spontanen Impuls folgend, sagte sie: «Es ist gerade ruhig auf der Station. Ich habe mir im Schwesternzimmer einen Tee gekocht. Komm doch kurz mit, dann reden wir ein wenig darüber, wie du deiner Mutter besser helfen kannst.»
«Mein Bruder wird mich gleich abholen. Er wird mich suchen.»
«Viel Zeit habe ich auch nicht», erwiderte die Frau. «Spätestens in zehn Minuten wird hier irgendwo wieder ein rotes Lämpchen angehen. Aber die kleine Auszeit sollten wir uns gönnen. Wir sehen deinen Bruder, sobald er auf der Station auftaucht.» Aufmunternd nickte die Frau ihr zu.
Widerstrebend stand Saliha auf. Die Krankenschwester umfasste ihre Schultern und schob sie sanft, aber bestimmtin Richtung Tür. Saliha hatte keine Kraft, ihr etwas entgegenzusetzen.
Die Pressekonferenz am Montagmorgen fand im zweiten Stock des Polizeipräsidiums statt. Seit mehreren Monaten hatte es keine Toten mehr gegeben. Zwar waren mehrere Menschen Opfer schwerer Gewalttaten geworden, aber sie waren dem Tod
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