Ehrenhüter
musstenhier in der Grube sitzen und tatenlos ihre Schreie mit anhören.
Er formte seine Hände zu einem Trichter, um so laut zu brüllen, wie er konnte, und die Angreifer damit zu irritieren. Da trat sein rechter Fuß auf einen Gegenstand. Seine Pistole! Er hatte sie beim Sturz in die Grube verloren. Kurz entschlossen entsicherte er seine Waffe und befahl Petersen: «Halt dir die Ohren zu.»
Nur den Bruchteil einer Sekunde lang überlegte Andrea Voss, ob sie mit ihrem Auto rund um den Bunker flüchten und darauf hoffen sollte, einen anderen Weg zurück zur Straße zu finden. Aber sie fürchtete, dass der Fahrweg kurz hinter dem Parkplatz, auf dem Steenhoffs Dienstauto stand, dort endete. Schließlich war ihr Smart kein Geländewagen, mit dem sie querfeldein ihren Verfolgern entkommen konnte.
Einem spontanen Impuls folgend, riss sie die Fahrertür auf und rannte in die Nacht. Das Auto hinter ihr bremste mit quietschenden Reifen. Türen wurden aufgerissen, eine Männerstimme rief etwas. Aber Andrea hörte nur ihren eigenen gepressten Atem. Sekunden später filterten ihre geschärften Sinne dumpfe Laufschritte hinter sich heraus, die einem kräftigen, schweren Mann zu gehören schienen. Sie verlor keine Zeit damit, sich umzudrehen. Sie wusste auch so, dass der Mann die Distanz zu ihr mit jeder Sekunde verringerte. Sie hielt die Luft an und rannte. Sie rannte so schnell wie noch nie in ihrem Leben. Ohne Rücksicht auf mögliche Hindernisse, auf Zäune oder Steine im Weg.
Zweimal strauchelte sie, aber es gelang ihr, schnell wieder auf die Beine zu kommen. Der Mann war direkt hinter ihr, als sie mit einem Mal all ihre Angst hinausschrie. Wie in einem Film sah sie sich durch die feuchten Wiesen an derWeser hetzen, dicht gefolgt von einem Schatten. Sie lauschte ihrem eigenen Schrei und hätte schwören können, dass es jemand anderer war, der diesen verzweifelten Hilferuf ausstieß.
Auch ihr Verfolger schien einen kurzen Moment lang irritiert. Er blieb stehen und rief ihr etwas zu. Doch sie schenkte seinen Worten keine Beachtung. Jeder gewonnene Zentimeter bedeutete Leben. Vielleicht gab es doch noch eine Chance. Vielleicht konnte sie den Unbekannten abschütteln.
Aber ihre Hoffnung wurde schnell zerstört. Zuerst spürte sie seinen pfeifenden Atem im Nacken, dann wie eine Hand sie packte und zu Boden stieß. Der Mann rammte ihr ein Knie in den Rücken und drückte sie mit seinem vollen Gewicht in den feuchten Boden.
‹Yasemin›, schoss es ihr durch den Kopf. So, genau so musste Yasemin wenige Meter von hier im Schlick gelegen und um ihr Leben gefleht haben. Diese Männer kannten keine Gnade. Es gab kein Entrinnen mehr. Es war aus.
Eine nie gekannte Ruhe überkam Andrea plötzlich. Sie schloss die Augen und wartete auf das Ende.
Da fielen Schüsse. Der Mann ließ sie los und warf sich flach auf den Boden. Befehle bellten durch die Nacht.
Eben noch hatte sich Andrea ihrem Schicksal ergeben. Aber jetzt keimte neuer Lebenswille in ihr auf. Auf den Boden gepresst, robbte sie weg von den Stimmen, weg von dem Angreifer. Vielleicht würden die Männer ihr Opfer in dem Chaos einfach vergessen? Noch gab es eine Chance.
Sie war keine drei Meter weit gekommen, als der Mann hinter ihr einen Satz nach vorne machte, hart bei ihr auf dem Boden landete und ihren rechten Fuß festhielt. Grob zog er sie zu sich heran. Andrea schabte mit dem Gesichtüber den feuchten Grund und schmeckte Gras und Erde zwischen ihren Zähnen. Die Hände des Fremden tasteten ihren Körper ab.
«Ich habe sie», hörte sie den Mann seinen Komplizen zurufen. «Sie ist nicht bewaffnet.»
Er drehte ihre Arme auf den Rücken. Sekunden später klickte es, und sie spürte das kalte Metall von Handschellen. «Sie bleiben liegen, bis wir den Kerl haben, der hier rumballert», befahl der Mann.
Später wusste Andrea Voss genau, wann ihr journalistisches Gehirn wieder zu arbeiten anfing und die Panik beiseiteschob: Der Unbekannte hatte sie in eine äußerst missliche Lage gebracht, aber er wollte sie offenbar nicht töten. Außerdem pflegten Mörder ihre Opfer nicht zu siezen.
Langsam drehte sie ihren Kopf zur Seite und wagte einen Blick auf den Angreifer, den sie im Lichtschein der Autos nur undeutlich erkennen konnte. Er war ein paar Jahre jünger als sie und fast zwei Köpfe größer. Ihr Verfolger schien nervös zu sein und lag ebenso wie sie dicht an den Boden gepresst. Als sich Andrea vorsichtig noch ein wenig mehr nach hinten bog, erkannte sie
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