Ehrenhüter
Steenhoff ruhig, und Roman nickte resigniert.
In der folgenden Stunde erfuhren Steenhoff und Petersen, dass Roman 17 Jahre alt war und die letzte Klasse des Anna-Lühring-Gymnasiums besuchte. Nilgün war ein Jahrgang unter ihm. Die beiden hatten sich bei den Projekttagen der Schule vor gut einem Jahr im Schachkurs kennengelernt.
«Nilgün war das einzige Mädchen im Kurs. Aber sie hat uns alle an die Wand gespielt. Sie ist sehr klug», erzählte Roman stolz. Er hatte sich sofort in die zurückhaltende Schülerin verliebt und sie am Ende der Projekttage zum Eis eingeladen. Doch das Mädchen hatte abgelehnt. Aber so schnell wollte Roman nicht aufgeben. Per SMS lud er sie zu der Party seines besten Freundes ein. Wieder sagte Nilgün ab, dennoch interpretierte Roman ihre Antwort positiv. «Sie bedankte sich für die Einladung und schrieb, dass es ihr sehr leidtue, sie aber nicht kommen könne», erzählte er den Ermittlern. Offenbar erinnerte er sich gern an diese Kennenlernphase. Navideh Petersen fand, dass seine Wangen wieder etwas Farbe bekommen hatten.
«Irgendwann habe ich sie zu einer Partie Schach zu uns nach Hause eingeladen – da ist sie gekommen. Aber erst, nachdem sie sich erkundigt hatte, ob meine Mutter ebenfalls zu Hause sei.» Bei dem Gedanken daran schüttelte Roman den Kopf und lachte leise auf. «Sie legt großen Wert auf Anstandund Regeln. Es hat Wochen gedauert, bis ich sie das erste Mal küssen durfte.»
Schlagartig wurde er wieder ernst. «Ich würde es nicht aushalten, wenn ihr etwas passiert wäre. Bitte, finden Sie sie! Vielleicht haben ihre Eltern oder ihre Brüder ja doch etwas über uns herausgefunden und sie in die Türkei gebracht. Sie müssen Nilgün das Handy weggenommen oder sie eingesperrt haben. Sonst hätte sie sich längst gemeldet.» Roman war nah dran, panisch zu werden. «Wenn die sie in die Türkei gebracht haben, um sie dort zu verheiraten, wäre sie in Lebensgefahr. Denn wir …» Verlegen brach er mitten im Satz ab.
«Meinen Sie, Nilgün könnte sich in Lebensgefahr befinden, weil sie verbotenerweise ein intimes Verhältnis miteinander hatten?», sprang ihm Navideh Petersen bei.
Roman hob den Blick und sah sie verzweifelt an. «Ja. Sex vor der Ehe gilt in ihrer Familie als Todsünde. Zumindest bei den Mädchen. Es geht da irgendwie um Ehre oder so’n Scheiß.» Wütend fuhr er sich durch sein kurzes braunes Haar. «Ihr ältester Bruder darf natürlich eine Freundin haben. Sogar eine Deutsche. Die wird dann vermutlich irgendwann auf Anordnung von Papa sitzengelassen, und dann muss Murat ein türkisches Mädchen aus gutem Hause heiraten.» Er schnaufte verächtlich. «Am besten eine Analphabetin aus einem hinteranatolischem Dorf, die sich in Deutschland ohne Widerspruch herumkommandieren lässt.»
«Roman, wie kannst du so über Nilgüns Familie reden?» Der scharfe Tadel ließ den 1 7-Jährigen herumfahren. In der Tür stand ein Mann, der fassungslos von seinem Sohn zu den unbekannten Besuchern sah. «Darf ich fragen, wer Sie sind und was Sie von meinem Sohn wollen?»
Steenhoff stand vom Sofa auf und reichte ihm die Hand. «Frank Steenhoff, Mordkommission Bremen. Das ist meine Kollegin Navideh Petersen.»
Romans Vater sah die beiden Besucher verblüfft an. «Mordkommission? Um Gottes willen, was haben wir mit der Mordkommission zu tun?»
«Wir haben leider Grund zu der Annahme, dass Romans Freundin Opfer eines Verbrechens geworden ist», sagte Navideh vorsichtig.
«Nilgün?» Klaus Rodewaldt war erschüttert.
«Ja, Nilgün Cetin», bestätigte sie.
Eine unheilvolle Stille breitete sich im Raum aus, die plötzlich von einem lauten Schluchzer zerrissen wurde. Roman war aufgestanden, taumelte und versuchte vergeblich, sich am Kaminofen abzustützen. Mit einem Satz war Navideh bei ihm. Sie hatte schon die ganze Zeit damit gerechnet, dass der junge Mann irgendwann seine mühsam aufrechterhaltene Fassung verlieren würde. Jetzt, wo sein Vater erschienen war, konnte er sich endlich fallen lassen. Doch nicht Klaus Rodewaldt nahm ihn in den Arm, sondern sie, Navideh Petersen.
Der junge Mann ließ es geschehen und klammerte sich an die fremde Polizistin, als könne sie allein ihn vor dem drohenden Sturz in den Abgrund bewahren.
Auch Klaus Rodewaldts Augen füllten sich mit Tränen. «Ich … Ich verstehe immer noch nicht, was … was passiert ist», sagte er stammelnd und strich seinem Sohn unbeholfen über den Rücken.
Steenhoff bat ihn, sich zu setzen,
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