Ehrenhüter
zu tun. Notfalls hätten wir aber die Uhrzeit notiert und den Anrufer per richterlichem Beschluss über die Telekom zurückverfolgt. Ich glaube übrigens nicht, dass er von einer Telefonzelle aus anrief. Der war zu aufgeregt, um sich mit solchen Verschleierungstaktiken zu beschäftigen.»
«Und woher wusstest du, dass er noch bei seinen Eltern lebt?»
«Er klang nicht wie jemand, der schon für sich allein Verantwortung übernimmt. Oder wie hat er auf dich gewirkt?»
Navideh musste Steenhoff recht geben. «Ja, er wirkte jung. Wie ein verängstigter Jugendlicher.» Sie überlegte. «Was meinst du? Heißt unser Opfer Nilgün?»
Steenhoff griff sich seine schwarze Lederjacke und steckte den Autoschlüssel ihres Dienstwagens ein. «Bislang spricht alles dafür.»
Noch während sie über den Hof des Präsidiums gingen, rief Navideh Michael Wessel an und bat ihn, den Namen des jungen Zeugen und seiner Freundin zu überprüfen. Schon nach wenigen Minuten meldete sich Wessel wieder bei ihr.
«Roman Rodewaldt hat nichts auf dem Zettel. Kein Ladendiebstahl, kein BT M-Verstoß – nichts. So, wie wir uns die jungen Leute immer wünschen. Laut Einwohnermeldeamt lebt er gemeinsam mit seinen Eltern, Cornelia und Klaus Rodewaldt, in der Jortzigerstraße 44. Auch die beiden sind polizeilich unbeschriebene Blätter. Der Vater ist übrigens Hochschulprofessor.»
«Und das Mädchen? Nilgün?»
«Ist polizeilich auch nie in Erscheinung getreten. Sie wohnt mit ihren drei Geschwistern zu Hause bei ihren Eltern in Walle. Der Vater besitzt einen Gemüseladen in Gröpelingen, in dem auch einer ihrer Brüder und die Mutter mitarbeiten. Ich hab mal eben kurz beim Revier nachgefragt. Ein Kollege kennt die Familie. Einer der beiden Brüder ist mal vor zwei Jahren wegen eines Körperverletzungsdelikts aufgefallen. Sonst scheint es dort nichts zu geben.»
Wenige Minuten später bog Steenhoff in die Jortzigerstraße ein. Die Parkbuchten waren mit gepflegten Kleinwagen besetzt. Er stellte den Dienstwagen in einer Nachbarstraße ab.
Navideh Petersen zeigte auf ein weiß getünchtes, dreistöckiges Haus, vor dem eine Magnolie stand. Ihre ausladenden Zweige waren so geschnitten, dass jeder Besucher wie durch einen grünen Blättertunnel auf den Eingang zukam. An der Vorderfront rankte eine alte Glyzinie empor. Ihr mehrfach gedrehter dicker Stamm verriet, dass die Kletterpflanze an die hundert Jahre alt war und aus derselbenZeit stammte, in der auch das Haus erbaut wurde. Blühende buschartige Goldruten sorgten für gelbe Farbtupfer im Vorgarten.
Bevor Steenhoff und Petersen klingeln konnten, öffnete ihnen ein junger Mann schon die Tür. Roman Rodewaldt war groß. Er überragte Steenhoff um einige Zentimeter. Und er war auffällig blass. Seine rotgeränderten Augen verrieten, dass er geweint haben musste.
Als ihm Navideh die Hand zur Begrüßung reichte, fiel ihr sein weicher Händedruck auf. Sie lächelte ihn aufmunternd an, aber Roman Rodewaldt hatte sich schon umgedreht und seine Besucher aufgefordert, ihm ins Wohnzimmer zu folgen. Hinter einem schmalen Flur lag ein großer lichtdurchfluteter Raum; Küche und Wohnzimmer gingen ineinander über. Optischer Mittelpunkt des Raumes war ein Kaminofen. Roman zeigte auf eine lederne Sitzgarnitur und wartete, bis sich die Beamten gesetzt hatten. Dann hockte er sich auf die vorderste Kante eines Sessels und knetete nervös seine Hände.
Navideh Petersen betrachtete den jungen Mann stumm. Gleich springt er auf und rennt weg, dachte sie. Mit seinen schmalen Schultern und den langen feingliedrigen Fingern wirkte Roman Rodewaldt zerbrechlich. Umso überraschter war Navideh über die Frage, die er den beiden Ermittlern unvermittelt stellte: «Darf ich die Tote sehen?»
Steenhoff wechselte einen schnellen Blick mit seiner Kollegin, den sie eindeutig als Nein interpretierte.
«Die junge Frau, deren Identität wir aufzuklären versuchen», sagte Steenhoff abwehrend, «lag tagelang mit dem Gesicht auf einer feuchten Wiese. Sie würden sie nicht wiedererkennen.» Es gab andere Mittel, den Verdacht abzuklären. Falls es wirklich seine Freundin wäre, würde er denAnblick der Toten nie vergessen. Das wollte Steenhoff ihm ersparen. Es reichte, wenn die Eltern das Mädchen identifizierten.
«Aber ich muss wissen, was mit Nilgün passiert ist», sagte Roman heftig.
«Das möchten wir auch wissen. Und deswegen müssen Sie uns jetzt so präzise wie möglich alle Fragen beantworten», meinte
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