Ehrensachen
gewesen. Archie hatte ihn zu ein paar Footballspielen auf dem Soldiers’ Field mitgeschleppt und ihm die einfachsten Grundregeln erklären müssen. Henry konnte sich mit Bravour über Bücher auslassen, und wahrscheinlich waren sie Thema seiner Unterhaltungen mit den Mädchen. Aber selbst wenn diese Partymädchen sich gern über Bücher unterhielten, schüchterten sie Henry ein, denn sie waren provokant und brüsk, sprühten vor Witz, zauberten eine Illusion körperlicher Vertrautheit, als wollten sie einem gleich in die Arme sinken, und konnten diese Illusion ebenso prompt aufbauen wie zerstören. Deshalb verabredete er sich lieber mit Radcliffe-Mädchen, die Archie Henrys graue Mäuse nannte: ernsthafte, nette Mädchen, zu pummelig oder zu dürr, mit krummen oder Pferdebeinen. Henry sagte ganz offen, warum: Man kann sie in letzter Minute einladen, muß nicht wer weiß wieviel Wind machen, bis man sie anfassen darf, und das Risiko, abgewiesenzu werden, ist minimal. Alles richtig, aber ich fand, daß er sich unter Preis verkaufte. Natürlich entsprach er nicht dem Stover at Yale -Musterbild, aber er sah gut aus und war für die Mädchen auf den Partys von Archies Freunden bestimmt nicht nur wegen seiner anregenden Konversation vorübergehend attraktiv. Ich predigte Henry unentwegt Selbstvertrauen. Er hörte mir höflich zu. Einmal riß mir die Geduld, und ich fragte, ob dies auch wieder eine Variante des jüdischen Problems sei und wenn ja, ob er den grauen Mäusen erzähle, daß er Jude war. Selbstverständlich, erwiderte er sehr kühl und gelassen, alles habe mit der jüdischen Herkunft zu tun. Und für die grauen Mäuse habe er kein allgemeines Rezept: Was er ihnen erzähle, hänge davon ab, was er mit ihnen anstelle. Ich war ratlos. Dies klang anders als seine Taktik, weder zu leugnen, daß er Jude war, noch seine jüdische Herkunft an die große Glocke zu hängen, wenn niemand danach fragte. Küßte und streichelte er sie, ohne zu sagen, daß er Jude sei, setzte sie aber in Kenntnis, wenn mehr in Sicht war? Bestimmt tat er das, sagte ich mir und war im selben Moment entsetzt über meine eigene Reaktion. Unterstellte sie etwa, daß Jüdischsein einer unbehandelten Gonorrhöe gleichkäme?
Irgendwann vor Thanksgiving erzählte mir Henry, er glaube, Penthesilea in seinem Literaturkurs gesehen zu haben. Der höhlenartige Raum des Sanders Theatre konnte kaum die Menge der Hörer fassen, die der Gastprofessor, ein sehr bekannter und umstrittener Literat, anzog. Bis jetzt hatte Henry das Mädchen nur aus der Ferne gemustert, aber wenn es tatsächlich Penthesilea war, dann wußte er ihren Namen: Margot Hornung. Eine Studentin namens Sue, neben der er gewöhnlich saß, hatte ihm alles über sie erzählt. Die beiden waren in dieselbe Mädchenschule in New York gegangen. Henry meinte, Sue habe ihn gern. Ja, sie ist eine graue Maus, gab er zu. Sue und er unterhieltensich vor und nach dem Unterricht, tauschten Mitschriften aus und gingen zusammen auf einen Tee und Muffins ins Hayes-Bickford. Sie sei die größte Klatschbase, die er kenne. Ich war neugierig auf den Klatsch, aber Henry sagte, es habe keinen Sinn, jetzt davon anzufangen, erst müsse ich mitkommen und das Mädchen identifizieren. Zu diesem Zweck solle ich ihn am nächsten Tag ins Sanders Theatre begleiten. Ich sagte, das sei Unsinn: Wir hätten das Mädchen beide nur einmal und bei derselben Gelegenheit gesehen. Zum Schluß gab ich nach, auch weil ich neugierig auf den Dozenten war. Wir waren frühzeitig im Sanders, und vorn gab es noch freie Plätze, aber Henry zog mich in eine der hinteren Reihen. Als ich protestierte, meinte er, auch hinten im Raum könne ich alles gut hören; und ohnehin saß Sue dort und hielt uns Plätze frei. Eine sympathisch aussehende Blondine, die beim Lächeln Zahnspangen über winzigen gelblichen Zähnen zeigte. Henry setzte sich zwischen uns. Der Saal füllte sich, und als mir schon langsam Zweifel kamen, ob Penthesilea erscheinen werde, puffte mich Henry und wies auf die Tür, die dem Podium am nächsten war. Da ist sie, flüsterte er. Keine Frage, es war Penthesilea Grünstrumpf, zur Abwechslung mit marineblauen Socken und teuren Mokassins. Zur Bestätigung für Henry hielt ich den Daumen hoch.
Nach dem Vortrag hatte ich ein Seminar und verabschiedete mich vor dem Sanders Theatre von Henry und Sue. Aber Henry und ich aßen am Mittag zusammen in der Mensa. Ich dachte, jetzt, da ich ihre Identität bestätigt hatte, habe er
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