Ehrensachen
literarischem Gebiet aus. Die beste polnische Übersetzung der Horazischen Oden und Epoden war ihr Werk. Ihr Vorschlag erschien durchführbar: Sie war Witwe, sie lebte allein, und sie hatte in der Nähe von Krakau keine Verwandten. Das Eindringen oder Indiskretionen von Besuchern brauchte man nicht zu fürchten, und das Haus war so groß, daß man ein Hinterzimmer, dessen Fensterläden immer geschlossen waren, abtrennen und versperren konnte. Pani Maria meinte, wenn sie sehr vorsichtig wären, könne es gelingen. Aber sie war nicht bereit, auch Mr. White aufzunehmen. Sie gab offen zu, daß dieseEntscheidung irrational sei. Sie glaube ganz einfach nicht, daß ihre Nerven die Anwesenheit eines zweiten Erwachsenen in dem Raum hinter einer verborgenen Tür aushalten würden. Henrys Eltern sahen keine Möglichkeit, sie von diesem Standpunkt abzubringen. Es war besser, sich nach einem anderen Versteck für Mr. White umzusehen. Er hatte einen Geschäftsführer, der schon seit vielen Jahren in seiner Firma arbeitete und mit dem er sich immer sehr gut verstanden hatte. Der Mann zögerte, seine Frau mußte überzeugt werden, aber schließlich willigte er ein, Mr. White aufzunehmen. Mr. White wartete nicht, bis er aufgefordert würde: Sowie der Mann ja gesagt hatte, überschrieb er ihm die Firma, die Häuser, die ihm und seiner Frau gehörten, und alle anderen übertragbaren Vermögenswerte, über die er sonst noch verfügte. Der Geschäftsführer sagte: Keine Sorge, wenn wir überleben, werden wir es fair aufteilen. Darauf gaben sie sich die Hand. Der Hauptunterschied zwischen den Verstecken war, daß Mr. White im Keller leben mußte. Der Geschäftsführer hatte nicht nur eine Frau, sondern auch kleine Kinder; man konnte unmöglich Fremde vom Haus fernhalten.
Immerhin, sagte Henry, den Krieg haben wir überstanden, und als die Russen die Deutschen aus Krakau verjagt hatten, taumelten wir auf die Straße wie Menschen, die in einem Bergwerk verschüttet waren. Wir waren die einzigen aus der ganzen Familie, die überlebt hatten.
Die Geschichte erschütterte mich und auch die Art, wie er erzählte: nüchtern und irgendwie abweisend.
Was kam dann? fragte ich.
Wann? Nach dem Krieg? Eine Weile wohnten wir in Krakau, in unserer alten Wohnung, die die Deutschen besetzt und dann in aller Eile verlassen hatten. Wir mußten nicht versuchen, irgendwelche Polen rauszuwerfen, und unsere Möbel hatten die Deutschen stehenlassen. Der Mann, dermeinem Vater das Leben gerettet hatte, gab ihm genug Geld zum Leben und finanzierte ihm auch den Handel auf dem Schwarzmarkt. Den Profit teilten sie sich. Es war eine nützliche Abmachung. Nach einer Weile war mein Vater so gut im Geschäft, daß er es nur mit Bedauern wieder aufgab. Pani Maria – ich liebte sie über alles – starb an einer Grippe, die sich zu einer Lungenentzündung verschlimmert hatte. Dann war der Sommer vorbei, und für mich wurde es Zeit, ins Gymnasium einzutreten. Mit meiner Mutter hatte ich polnische Literatur gelesen, und mit Pania Maria Aufsatzschreiben, Latein und Deutsch geübt; sonst wußte ich nichts. Ich büffelte und kam durch. Dann bot sich die Gelegenheit, gewisse Visa zu kaufen, die uns die Ausreise aus Polen und die Einreise nach Belgien erlauben würden. Mein Vater griff sofort zu. Über Belgien kamen wir nach New York. Einen einzigen Vermögenswert hatte mein Vater nicht überschrieben. Das war das Firmenkonto bei der New Yorker Morgan Bank, das aus steuerlichen Gründen, die im Vorkriegspolen galten, auf seinen eigenen Namen lief. So hatten wir doch noch etwas Geld und konnten uns schließlich in Brooklyn niederlassen.
Ich zögerte, fragte ihn dann aber doch – weil ich mir die Erfahrung überhaupt nicht vorstellen konnte –, wie es gewesen sei, drei Jahre in einem abgesperrten Zimmer zu leben.
Was soll das heißen? fragte er. Willst du wissen, ob wir einen Nachttopf benutzten und wer ihn wann ausleerte? Wie wir uns gewaschen haben? Oder gestritten? Das werd ich dir nicht erzählen.
Ich entschuldigte mich und kam zurück auf die andere Frage, wie er den Lernstoff im Gymnasium aufgeholt habe. Ich sagte: Daß du Latein und Deutsch gelernt hattest, habe ich verstanden. Aber der Rest? Wie war’s mit dem Englischen?
Ich hab dir doch erzählt: Gebüffelt habe ich. Wenn ich was nicht weiß, mogele ich mich durch. Ich habe ein gutes Gedächtnis. Das hilft. Alles, was ich in einem Buch lesen kann, bleibt hängen. Aber, sagte er, in Büchern steht nicht alles.
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