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Ehrensachen

Ehrensachen

Titel: Ehrensachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Begley
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hören wollen. Henry gab widerstrebend Auskunft, und ich glaube, wenn er nicht mit seinen Gedanken bei Margot gewesen wäre, hätte er mir nicht so viel erzählt.
    Anscheinend war Henrys Vater, im Gegensatz zu Mr. Hornung, vor dem Krieg nicht richtig reich, aber nach den Maßstäben erfolgreicher jüdischer Geschäftsleute in Polen ein wohlhabender Mann gewesen; diese Maßstäbe, das betonte Henry, waren jedoch nicht gleichzusetzen mit den in den Niederlanden oder im übrigen Westeuropa geltenden. Polen war ein armes Land; »reich« oder »wohlhabend« bedeutete dort etwas anderes als zum Beispiel in London. Die Familie betrieb den Export von Lebensmitteln, vor allem von polnischem Schinken, einer der wichtigsten Einkunftsquellen für das Land; sie exportierten auch Kunsthandwerk und Webwaren, zum Beispiel Kelims. Außerdem hatten sie in Immobilien in ihrem Wohnort Krakau investiert. Mr. White hatte ein juristisches Examen, aber als er die obligatorische praktische Ausbildungszeit in einer Anwaltskanzlei beginnen wollte, starb sein Vater. Als einziger Sohn mußte er das Geschäft übernehmen. Seine Braut suchte er sich unter äußerst konventionellen Gesichtspunkten aus. Er heiratete die Tochter des ebenfalls wohlhabenden führenden jüdischen Anwalts, die eine ansehnliche Mitgift in dieEhe einbrachte, unter anderem ein Mietshaus in einer guten Wohngegend im alten Stadtkern. Auch sie hatte einen Universitätsabschluß, in polnischer Literatur, und plante, als Mr. White um ihre Hand anhielt, noch das Zusatzexamen zu machen, das ihr erlaubte, an staatlichen Gymnasien zu unterrichten. Aus diesem Plan wurde nichts, unter anderem wegen Henrys Geburt elf Monate nach der Hochzeit. Sie führte den Haushalt meines Vaters und fühlte sich damit voll ausgelastet, obwohl sie vier oder fünf Dienstboten hatte, sagte Henry. Seine Familie und die Eltern der Mutter waren zu gut gestellt, zu angesehen und in Sprache und Lebensgewohnheiten zu polnisch, als daß sie im Alltagsleben etwas von den Beleidigungen und Demütigungen gespürt hätten, denen Juden systematisch ausgesetzt waren, seit nach dem Tod von Marschall Piłsudski eine rechtsextreme nationalistische und antisemitische Regierung an die Macht gekommen war. Sie hatten noch Zeit, bis die Deutschen kamen.
    Von Krakau aus wurde das von Deutschen besetzte »Generalgouvernement Polen« verwaltet, und unverzüglich verfügte man, daß Juden den gelben Stern zu tragen und in das Ghetto zu ziehen hätten, das im alten jüdischen Wohnviertel Kazimierz errichtet wurde. Bevor es dazu kam, flohen Henrys Großeltern, die Eltern seiner Mutter, jedoch nach Zakopane in der Tatra, wo sie seit vielen Jahren immer im selben Hotel die Sommermonate verbracht hatten. Der Hotelbesitzer hatte versprochen, sie zu verstecken. Henrys Eltern erfuhren nie genau, wo oder wie dieses Versteck war; ganz generell war die Idee gewesen, daß sie in einem kleinen Landhaus in der Umgebung von Zakopane, das dem Hotelbesitzer gehörte, außer Sicht- und Hörweite – und außer Gefahr – sein würden. War er es irgendwann leid, Juden zu verstecken? Verkaufte er sie an die polnische Polizei oder gleich an die Gestapo? Wurden sie von einem Nachbarnangezeigt? Als der Krieg vorbei war, forschte Mr. White nach, bekam aber keine vertrauenswürdigen Auskünfte. Er erfuhr immerhin, daß ein jüdisches Ehepaar, vermutlich seine Schwiegereltern, vor Weihnachten 1942 in das Gestapoquartier in Zakopane gebracht worden war und nie wieder gesehen wurde. Der Hotelbesitzer starb 1943, angeblich an einer Lungenentzündung; seine Familie war weggezogen. Mr. White fand es verdächtig, daß der Mann eines natürlichen Todes gestorben war; die Geschichte machte ihn mißtrauisch. Wenn ihn jemand denunziert hätte, weil er Juden versteckt hielt, wäre er höchstwahrscheinlich erschossen worden.
    Henrys Eltern und Henry suchten auf ähnlichem Weg Sicherheit, aber dieser Weg endete nicht in einer Katastrophe. Die alte Lateinlehrerin seiner Mutter am Krakauer Gymnasium, Pani Maria, eine bemerkenswerte Frau, die als Schulmädchen an der sozialistischen polnischen Unabhängigkeitsbewegung teilgenommen hatte, bot spontan an, Henry und seine Mutter in ihr Haus am Stadtrand aufzunehmen und dort zu verstecken, bis der Krieg zu Ende war, das hieß nach ihrer festen Überzeugung: bis die Deutschen geschlagen waren. Pani Maria war nicht nur außergewöhnlich mutig und großzügig, sondern zeichnete sich auch auf wissenschaftlichem und

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