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Ehrensachen

Ehrensachen

Titel: Ehrensachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Begley
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ich, daß wir alle drei – Henry, Archie und ich – das Wort »Jude« mit Befangenheit aussprachen, wir hielten es vorsichtig zwischen zwei Fingern weit vom Körper weg, als ob es einen schlechten Geruch ausdünste. Das Wort in kultivierter Umgebung zu benutzen war peinlich, besonders in Gegenwart eines Juden – es sei denn, man riß wie der gute Gummy antisemitische Witze über Weisberg, Goldberg und dergleichen. So gesehen, war es nicht anders als das Wort »Homosexueller« oder seine in Harvard gebräuchlichen, mehr oder weniger antiseptischen Varianten: Schwuler, Schwuchtel, Tunte, Uranist, Perverser und Päderast. Trotzdem war ich fest überzeugt, daß Henry Archie erzählt hatte, er sei Jude, oder jedenfalls eine Bemerkung gemacht hatte, aus der es klar hervorging. Alles andere als überzeugt war ich, daß sie über den Krieg gesprochen hatten. Ein mögliches Hindernis war Archies Abneigung gegen tiefe Gespräche, wie er es nannte. Wenn er eines kommen sah, versuchte er instinktiv wegzulaufen oder sich zu verstecken. War das nicht gut möglich, machte er ein sehr ernstes Gesicht, drehte einem das rechte Ohr zu, wie um dafür zu sorgen, daß ihm kein einziges Wort entging, und nach ein paar Minuten unterbrach er das Gespräch mit einer mehr oder weniger burschikosen Phrase wie: da mußt du durch, und dem Angebot, demnächst wieder eine ernste Unterhaltung zu führen. Womöglich schlug er dann dem Partner herzhaft auf den Rücken oder drückte ihm den Arm knapp oberhalb des Ellbogens. Archie war kein Mensch ohne Mitgefühl; im Gegenteil, ich glaube, er scheute sich, die Kümmernisse anderer Leute anzuhören, weil sie ihn so erschütterten. Jedenfalls merkte er immer sehr schnell und fast ohne verbaleKommunikation, was los war. Ich war überzeugt, daß er nach zwei Monaten des Zusammenlebens mit Henry auf engem Raum so viel von ihm wußte, wie er wissen wollte; die technischen Einzelheiten vom Überleben und der Immigration der Familie White fielen für ihn in die Kategorie der Angelegenheiten, an die man besser nicht rührt. Wenn Henry es gewollt hätte, würde Archie ihm zugehört haben, aber nachfragen würde er nicht. Nicht ich, sondern er hatte als erster gemerkt, daß Henry Jude war, und zwar einer, der keinen Wert darauf legte, als Jude erkannt zu werden; das hatte ich nicht vergessen. Inzwischen war mir auch klargeworden, daß Archies Satz, er würde eines Tages gern Henrys Geschichte hören, nur eine Höflichkeitsfloskel gewesen war. Auch in der Einschätzung von Henrys Judismus näherte ich mich jetzt Archies Standpunkt: Henrys Behauptung, er sei immer bereit zuzugeben, daß er Jude sei, sobald er danach gefragt werde, und teile es in bestimmten Fällen auch von sich aus mit, verriet wohl alles in allem nicht viel mehr als die Entschlossenheit, sich nicht bei einer entwürdigenden Lüge ertappen zu lassen.
    Ab und zu dachte ich mir, ich müsse Henry sagen, daß er am besten gleich, wenn er die Frage kommen sah, klarmachen solle, er sei Jude. Ich habe es nie versucht. Alles was mit Juden zu tun hatte – ein Thema, mit dem ich mich vorher wenig befaßt hatte –, war zu kompliziert, und Henrys Reaktionen ließen sich nicht vorhersagen. Vielleicht präziser ausgedrückt: Ich war nicht in der Lage, sie vorherzusagen. Zum Beispiel fragte ich ihn, kurz nachdem er mir erzählt hatte, daß er Jude sei, ob er Tabu der Gerechten gesehen habe. Er nickte. Als ich ihn fragte, was er von dem Film halte, sagte er, Gregory Peck, seine feinen Kleider, die schönen Wohnungen, das Haus in Connecticut und die Restaurants hätten ihm gut gefallen. Ich hielt ihm entgegen, in dem Film gehe es um sehr viel mehr. Er habe eine wichtigeBotschaft zu vermitteln. Henry schüttelte den Kopf und sagte: Die Botschaft ist eine Schachtel Aspirin für dich und andere, die so wie du sind. Ich protestierte wieder. Seine Antwort: Gregory Peck ist wie ein Pfadfinder im Zeltlager. Daß er sich als Jude ausgab, war wie einmal in den Wäldern übernachten und Mückenstiche aushalten. Am Sonntag morgen kann er wieder nach Hause gehen, heiß duschen und Pfannkuchen mit Ahornsirup essen. Sein Freund, gespielt von David Garfield, muß weiter Jude sein und mit Judenhassern auskommen. Wie das ist? Wenn du wissen willst, wie es wirklich ist, Jude zu sein, laß dir’s von Shylock erklären. Hör gut zu, wenn er seine Bitterkeit und seinen Haß ausspuckt. Das, sagte Henry, ist eine unverfälschte Aussage über die jüdische Conditio humana. Laß

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