Ehrensachen
mit George, weil er ein Verwandter war. Meine Sorge erwies sich als verfehlt. Sowie George den Namen von Margots Mädchenschule in New York genannt hatte, fragte Ellen sie nach der früheren Leiterin und dem Fremdsprachen- und dem Musikunterricht aus. Margot antwortete lustlos, nachlässig, einsilbig. Ich konnte mir nicht zusammenreimen, warum sie so mürrisch war. Vielleicht wollte sie George ärgern, aber soweit ich wußte, war er ein sehr aufmerksamer Tänzer gewesen, und bei Tisch gab er sich alle Mühe, ein guter Gastgeber zu sein. Ich behielt Ellen im Auge. Ausgeschlossen, daß sie das ungehörige Benehmen einer Person dulden würde, die leicht eine ihrer Schülerinnen hätte gewesen sein können. Es mußte zu einer Explosion kommen, aber wie würde die aussehen, da Ellen nicht zu den üblichen Schulstrafen greifen konnte, also Margot weder nachsitzen lassen noch mit einem unangenehmen Brief an die Eltern nach Hause schicken durfte? George hätte sich einschalten müssen, um die Lage zu entschärfen, aber er schien nicht zu merken, daß etwas schiefging. Zum Glück sorgte Henry für eine Ablenkung, die so überraschend war, daß ich meinte, sie könne Margot vor dem gerechten Zorn der Schulleiterin schützen. Er hatte mir gesagt, daß ihm der Eierpunsch im Hause Standish wirklich sehr gut schmeckte. Vielleicht hatte er einen zuviel getrunken. So jedenfalls erklärte ich mir die ziemlich lauten und merkwürdigen Fragen, mit denener Susie in ein Gespräch verwickelte. Er wollte wissen, wie wichtig die Märchen der Brüder Grimm oder Hans Christian Andersens für ihre Geschichten waren. Er ließ sich weitschweifig darüber aus, wie sehr es ihn überraschte, daß sie diese Autoren nicht schätzte, und stellte immer neue Fragen, worauf Susie schließlich eine Autorin nannte, von der sie beeinflußt war: Louisa May Alcott. Henry gab zu, daß er Little Women nie gelesen hatte – zu meiner Erleichterung, denn einen Augenblick lang hatte ich gefürchtet, er würde so tun, als kenne er das Buch –, und versprach, es sofort auf seine private Leseliste zu setzen. Dann schnitt er übergangslos ein anderes Thema an, als wolle er auf keinen Fall die Zügel aus der Hand geben: Er sprach über das polnische Märchen von Pan Twardowski, dem Edelmann, der dem Teufel seine Seele verkaufte und wie ein König lebte, da der Teufel sich an den Handel hielt, während Twardowski ihn am Ende um seinen Lohn betrog, indem er zum Mond flog. Der Mann im Mond, den man bei Vollmond sehen kann, das ist Pan Twardowski. Er lacht sich tot.
Das ist eine primitive Nacherzählung der deutschen Faust-Sage, bemerkte Ellen.
Henry wurde rot. Ja, natürlich, antwortete er, das hätte ich gleich sagen sollen.
Für mich und vielleicht alle anderen auch war es offensichtlich, daß er an diese Verbindung nie gedacht hatte, und ich wünschte, er hätte es einfach zugegeben.
Susie ließ Milde walten. Aber, meine liebe Ellen, sagte sie zur Schulleiterin, ist es nicht so, daß man faustähnliche Gestalten in den meisten Kulturen findet? In dem Fall wäre es keine Nacherzählung.
In den meisten? – Das ist doch wohl eine Übertreibung, kam die ziemlich grantige Antwort. Woher wollen wir wissen, ob es einen Zulu-Faust gibt?
Danach richtete die Schulleiterin ihre Aufmerksamkeitauf Henry und fragte ihn, ob er womöglich aus Polen stamme. Sie glaube, einen leichten und sehr hübschen polnischen Akzent zu hören, und ein polnisches Märchen kenne er auch.
Es ist ein polnischer Akzent, antwortete Henry.
Wirklich! Und wie ist es dazu gekommen?
Ich bin dort geboren, in Polen.
Aber Sie müssen noch ganz klein gewesen ein, als Sie das Land verließen.
Wie man’s nimmt. Wir sind vor drei Jahren aus Polen weggegangen.
Wirklich, sagte die Schulleiterin wieder. Und wohin gingen Sie von Polen aus?
Wir kamen hierher, antwortete Henry.
Hierher? fragte sie nach. Doch nicht in die Berkshires, nehme ich an.
O nein, wir sind nach New York gezogen.
Sie sagen ›wir‹. Heißt das: Sie und Ihre Familie?
Henry nickte: Ja, meine Eltern und ich. Ich bin ein Einzelkind.
Und aufs College haben Sie sich in New York vorbereitet?
Ja, sagte Henry. Und davor bin ich ein Jahr lang in Krakau in ein polnisches Gymnasium gegangen. Das war gleich nach dem Krieg.
Die Schulleiterin wurde sehr nachdenklich und sagte, sie nehme an, die Highschool in New York sei St. Ignatius Loyola, bekannt für ihr hohes Niveau. Sie habe den Rektor im Oktober bei einer Versammlung des
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