Ehrensachen
ankommen.
Ein Blick auf die Gäste in Standishs Wohnzimmer machte mir klar, daß dieses Ereignis der crème de la crème von Stockbridge, Tyringham und Lenox vorbehalten war und daß die Oberschicht sich fast vollzählig versammelt hatte. Viele Gesichter kannte ich, auch wenn ich nicht so tun konnte, als wären sie mir wirklich vertraut. Keiner, außer George, Margot und Henry natürlich, war auch nur annähernd in meiner Altersgruppe. Das konnte darauf hindeuten, daß Familien nicht notwendig als Einheit geladen waren. Dieser Umstand hätte mir einen Teil des Unbehagens nehmen können, das ich empfand, weil ich hier ohne meine immer von solchen Einladungen ausgeschlossenen Eltern war; Stammgäste würden das sofort erkennen, falls sie einen Gedanken darauf verschwendeten. Aber ich fühlte mich trotzdem nicht wohl, obgleich ich dankbar war, daß mir wenigstens die Peinlichkeit erspart blieb, unter den ständigen Gästen meine Altersgenossen begrüßen zu müssen, und obwohl ich keinen Grund hatte, mich auf meinem Weg durchs Wohnzimmer über mangelnde Herzlichkeit meiner Gastgeber oder zu wenige zur Begrüßung ausgestreckte Hände zu beklagen. Ich fand Margot in der Bibliothek auf einer Sitzbank am Fenster, sie umklammerte ihre bis zur Brust hochgezogenen Beine und schaute hinaus auf den Rasen an der Rückseite des Standish-Hauses, auf dem frische Schneewehen blendend hell schimmerten. Dahinter sah man schwarze Kiefern in Reihen und weiter in der Ferne den Monument Mountain. Sie schien in Gedanken versunken und hatte mich nicht kommen hören. Vielleicht weil sie keinen Lippenstift trug, wirkte ihr Gesicht kleiner, weniger extravagant als sonst und seltsam traurig. Ich sagte, sie habe hoffentlich gut geschlafen, und fragte sie nach George und Henry.
Ach, sagte sie, in der verglasten Veranda da drüben findest du einen Pingpongtisch. Sie machte eine vage Handbewegung zur Schmalseite des Hauses hin. George spielt brutal, Henry hat keine Chance. Mir wird schlecht beim Zusehen. Warum will Henry mit ihm spielen?
Aus mindestens zwei Gründen sagte ich: aus Höflichkeitgegenüber seinem Gastgeber, der nie stillsitzen kann, und weil er das Spiel lernen will, damit er George irgendwann schlagen kann.
Sie zuckte die Achseln und bat mich, ihr einen Drink zu holen. Nicht dies schauerliche Zeug, präzisierte sie mit einem Blick auf den Becher Eierpunsch, den ich in der Hand hielt, ich hätte gern einen Bourbon.
Der Diener vom vergangenen Abend war wieder im Einsatz und brachte den Drink auf einem silbernen Tablett. Als er außer Hörweite war, fragte ich Margot, ob sie ihn für den Butler der Standishs oder für einen Lohndiener halte.
Du und Henry, ihr stellt die gleichen Fragen, erwiderte sie. Wen kümmert das? Nach seinem Anzug zu urteilen, würde ich sagen, er arbeitet hier.
Wir ließen die Gläser klingen, sie sagte Prost und lachte mich zu meiner Überraschung an, mit dem offenen Lächeln, das ich am ersten Tag im Yard gesehen hatte, nur diesmal ohne Lippenstift. Dann erlosch das Lächeln, sie sagte kein Wort mehr und schaute wieder zum Monument Mountain. Ich wollte sie fragen, ob irgendwas nicht in Ordnung sei, aber der Diener – welches Merkmal an seiner Livree ihr deutlich machte, daß er zum ständigen Personal der Standishs gehörte, hätte ich gern gewußt – meldete, das Essen sei serviert. Mrs. Standish oder May – diese Anrede übte ich in Gedanken – zeigte uns unseren Tisch. George und Henry standen schon hinter ihren Stühlen, ebenso die beiden Misses Appleton, zwei unverheiratete Schwestern; Ellen, die ältere, war Leiterin einer Mädchenschule in Brookline. Susie, die andere, schrieb nach meiner vagen Erinnerung Kinderbücher, die regelmäßig Preise gewannen. Die Schwestern waren Mr. Standishs Cousinen mütterlicherseits und wohnten am Beacon Hill in Boston in einem Haus, das ihnen gehörte. Außerdem besaßen sie gemeinsam ein sehr schönes Shakerhaus in Tyringham, das sie von ihren Eltern geerbthatten. Dort waren sie in den Sommermonaten und an langen Wochenenden und Feiertagen außerhalb der Saison. Mit dieser Platzverteilung hatte Mrs. Standish für eine ausgeglichene Tischordnung gesorgt, ohne eine Art Kindertisch einzurichten oder George und Margot von Henry und mir zu trennen. Aber um welchen Preis? Die Schwestern, vor allem Ellen, galten als sehr strenge, unnahbare Blaustrümpfe. Ich sah dem Tischgespräch mit gemischten Gefühlen entgegen. Vielleicht würden sie nur miteinander reden und
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