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Ehrensachen

Ehrensachen

Titel: Ehrensachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Begley
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Arbeit konnte ihm, wie ich jetzt wußte, bestenfalls gezeigt haben, daß ich kein Schwachkopf war. Tom aß fast immer im Speisesaal des Hauses, und ich wußte, daß ich an seinem Tisch gern gesehen war. Henry brachte ich mit, sooft ich konnte, ohne den Eindruck zu erwecken, daß wir auf eine fade Weise unzertrennlich waren oder daß ich Tom seine Gesellschaft aufzwingen wollte. Nach mehreren gemeinsamen Mittagessen war ich überzeugt, daß Henry und Tom gut miteinander auskamen. Deshalb fragte ich Tom eines Tages, als wir allein am Tisch saßen, warum Henry nicht in das Haus aufgenommen worden war. Zur Antwort hob Tom eine Braue und sagte: Fehler kommen vor. Ich könne Henry gern mitteilen, über das nächste Jahr brauche er sich keine Sorgen zu machen. Dann fragte er mich nach Archie, Henrys sonderbarem Zimmergenossen. Archie sei harmlos, erklärte ich ihm. Na gut, sagte er, wenn das so ist … Der Satz blieb unvollendet. Sie verstehen, daß die Zusicherung nichts nützt, wenn sie nicht auch für Archie gilt, sagte ich. Henry wird ihn nie im Stich lassen. Tom nickte. Natürlich, beruhigte er mich, so muß es auch sein.
    Am selben Abend sahen Henry und ich eine Wiederaufführung des Films Der dritte Mann. Danach brachte er mich nach Hause, und unterwegs diskutierten wir über denNihilismus von Harry Lime und über die Frage, ob Orson Welles oder Trevor Howard der bessere Schauspieler sei. Die Verfolgungsjagd durch die Abwasserkanäle hatte mich aufgeputscht, und obwohl es schon spät war, glaubte ich, nicht gleich schlafen zu können. Ich bot Henry an, mit der elektrischen Kaffeemaschine, die George mir zum Geburtstag geschenkt hatte, Kaffee zu machen. Wir tranken jeder eine Tasse. Ich dachte, Henry wolle gehen, aber er sagte, er habe eine Frage. Ich müsse sie nicht beantworten, wenn es mir Mühe mache. Ob ich glaubte, daß mich das, was in New Orleans passiert war, verändert habe?
    Was denkst du denn? sagte ich. Ich habe keine Milz mehr. Ich hatte gebrochene Rippen, meine Nase wird nie mehr, wie sie war, und sie haben mir die Schneidezähne ausgeschlagen. Ist das keine Antwort auf deine Frage?
    Er protestierte und behauptete, ich würde ein Spiel mit ihm treiben. Ich müsse doch begriffen haben, daß er frage, ob ich jetzt Angst vor Menschen hätte?
    Ich war ehrlich verblüfft und gab ihm das auch zu verstehen. Nach kurzem Nachdenken sagte ich: nein, ich glaube nicht. Vorsichtiger sei ich vielleicht geworden, obgleich ich schon immer darauf geachtet hätte, zum Beispiel einen Bogen um die Townies zu machen, die nachts in der Hoffnung auf eine Schlägerei in den Straßen herumlungerten. In New Orleans hätten wir den Riesenfehler gemacht, uns einzubilden, daß wir als Touristen so etwas wie einen diplomatischen Immunitätsstatus hätten. Den Fehler würde ich nie wieder begehen, denn das Gegenteil sei richtig.
    Henry dankte mir für den Kaffee und sagte gute Nacht.
    In der Nacht konnte ich nicht schlafen, aber daß ich hellwach im Bett lag, hatte immerhin einen Vorteil: Ich verstand irgendwann, daß er die Frage hatte wiederaufnehmen wollen, die er mir am Tag meiner Rückkehr gestellte hatte; daß er nach Parallelen gesucht hatte zwischen meiner Erfahrung mit der Brutalität in New Orleans und seiner Angst im Krieg, ihm könne so etwas widerfahren. Meine begriffsstutzige Reaktion muß für ihn wie ein Schlag ins Gesicht gewesen sein. Normalerweise hätte ich gleich am nächsten Morgen die Gelegenheit gesucht, mich zu entschuldigen und mich mit ihm zu verabreden, damit wir weiterreden konnten, aber mit mir ging etwas Schlimmes vor. Damals hatte ich Mühe, ohne falsches Pathos zu beschreiben, was es eigentlich war, und ich weiß nicht, ob ich es jetzt besser kann. Meine Abneigung gegen die einfachsten täglichen Verrichtungen und Entscheidungen wuchs immer mehr, bis ich gar nichts mehr tat und nichts mehr entschied. Zum Beispiel ging ich immer seltener ans Telefon, wenn es klingelte. Ich konnte mich nicht dazu überwinden, Anrufe zu erledigen, auch die nicht, die ich im Normalfall für notwendig hielt. Ich stand nicht mehr aus dem Bett auf, wenn das Putzmuttchen kam. Ich war wie gelähmt vor Erschöpfung. Ich ging nicht mehr zum Unterricht und aß nicht mehr im Speisesaal. Wenn der Hunger mich trieb, zog ich mir irgendwas an und bewegte mich zwei Querstraßen weiter zu Elsie’s, um etwas zu essen. Die Teilnahme am Unterricht war nicht obligatorisch, aber ich arbeitete auch nicht für mich, und ich erschien nicht zu

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