Ehrensachen
Weihnachten nicht nach Hause kommen würde.
Lange nach Beginn meiner Analyse erzählte mir Tom Peabody, dessen Vorrat an Klatsch unerschöpflich war, etwas aus dem Leben meines Analytikers. Er war vor seinem Mentor Dr. Freud ins Exil gegangen und lebte zur Zeit des Anschlusses in London. Als Freud tot war und der Krieg sich auszuweiten drohte, entschied er, daß New York ein besserer Zufluchtsort wäre. Dr. Brill und andere einflußreiche Freunde, die er am New Yorker Psychoanalytischen Institut hatte, ließen ihre Beziehungen spielen, um ihm und seiner Frau Visa zu verschaffen, und 1940 legte er schon Zulassungsprüfungen ab und unterzog sich Lehranalysen am Institut. Ungefähr zu dieser Zeit beschloß Frau Reiner, mit einem verwitweten Wiener Kunsthändler eigene Wege zu gehen. Das war ganz gut so, denn Dr. Reiner stand im Begriff, eine interessante Patientin anzuwerben: Grace Leffingwell, eine junge ätherische Nachfahrin von Henry Clay Frick. Es wäre vielleicht professioneller gewesen, keine private Beziehung zu beginnen, bevor Graces Analyse abgeschlossen war. Ein Ende war jedoch nicht in Sicht, und Dr. Reiner wagte den Schritt und gewann Graces Herz und Hand – zum Entsetzen ihrer Familie und der New Yorker psychoanalytischen Gesellschaft. Die neue Mrs. Reiner, nunmehr verheiratet mit einem Juden, wurde prompt aus der Junior League ausgeschlossen und aus dem Mitgliedsbuch der New Yorker guten Gesellschaft gestrichen, eine Herabsetzung, die nach Toms Ansicht nur komisch war, da dieses Buch kaum weniger Einträge hatte als das Telefonbuch. Die Trusts und das Geld konnten die wütenden Leffingwells und Fricks Grace jedoch nicht entreißen. Wichtiger war, daß die Familienverbindungen, auch wennsie angespannt sein mochten, und die Millionen Dr. Reiners Kollegen einschüchterten: Es gab keinen Versuch, seine Verbindung zum Institut zu trennen. Trotzdem fühlte er sich in der New Yorker Fachwelt nicht mehr heimisch. Eine Zusammenarbeit mit der Harvard Medical School ergab sich, und ein in Wien ausgebildeter und in Cambridge praktizierender Psychiater konnte Grace als Patientin annehmen. Der Umzug in die neue Wohnung an der Spark Street wurde so prompt und reibungslos abgewickelt, wie es der Besitz eines großen Vermögens möglich macht.
Das Backsteinhaus an der Ecke Highland und Spark Street, zu dem ich montags bis freitags jeden Morgen um zehn Uhr ging, fiel nur durch seine glänzend schwarzen Fensterläden auf. Das Wartezimmer betrat man durch einen separaten Seiteneingang. Von dort zum Behandlungszimmer führte eine ledergepolsterte Tür. Dr. Reiner verlangte unbedingte Pünktlichkeit. Man kam zur vollen Stunde; die Sitzung begann sofort und endete genau fünfzig Minuten später. Es ging darum, Mantel und andere Habseligkeiten aus dem Wartezimmer zu holen und den Raum zu verlassen, bevor der nächste Patient eintraf. In meinem Fall versagte das System nur ein einziges Mal. Da ich ein, zwei Minuten zu früh kam, traf ich im Wartezimmer die Frau meines widerlichen Hausleiters. Sie war gerade im Aufbruch. Ich machte eine Verbeugung und sagte Hallo. Sie erwiderte meinen Gruß zerstreut. Dr. Reiner sagte ich nichts von der Begegnung.
Ich wüßte gern, ob eine Psychoanalyse je einem Menschen geholfen hat, so zu werden wie die Leute, die er beneidet und bewundert: jene, die Macht haben, weh zu tun, und es nicht tun, vielmehr die Fülle der Natur vor der Vergeudung bewahren, geborgen in ihren selbstverständlichen Ansprüchen an das Leben. Leute wie George Standish zum Beispiel. Dr. Reiner verwandelte mich nicht in einen intellektuelleren George, und erst allmählich begriff ich, daßdies auch nicht sein Ziel war. Ungefähr zwei Wochen lang saß ich während der Sitzung auf einem Stuhl, zwischen uns stand der Schreibtisch, und ich gab verworrene zerstreute Antworten auf Fragen zu meiner Familie. Eine Neigung zu zerstreutem Gerede hatte ich schon immer; endlich einmal mußte ich sie nicht in Schach halten. Dann änderte sich das Verfahren: Ich lag auf einer Couch, wie man sie aus Freuds Wiener Studio kennt, das als großes gerahmtes Foto an der Wand über mir hing; Dr. Reiner saß seitlich von mir, so daß ich ihn nicht sehen konnte, und ich versuchte, Worte für Träume zu finden, an die mich zu erinnern ich geübt hatte. Dr. Reiner hatte mich gewarnt: Er werde nur sprechen, um mich »in die richtige Spur auf der Autobahn zu lenken«. Das war dann auch alles, abgesehen von dem Satz: »Daran muß weiter gearbeitet
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