Ehrensachen
den Prüfungen in der Semestermitte. Womöglich wußte ich gar nicht, wo und wann sie stattfanden. Ich hörte weder Radio noch Schallplatten, obwohl ich nicht zuletzt deshalb unbedingt hatte allein wohnen wollen, weil es mir wichtig war, meine Bachmusik ungestört hören zu können, und obwohl ich meine Plattensammlung und den Plattenspieler, ein Weihnachtsgeschenk, von zu Hause mitgebracht hatte. Besonders beängstigend fand ich, daß ich nicht mehr richtig schlafen oder auch nur einschlafen konnte, sondern nur noch für Augenblicke in einen ohnmachtsähnlichen Kurzschlaf fiel. Nachts lag ich hilflos unter der Bettdecke, mit geschlossenen oder offenenAugen – es machte keinen Unterschied –, zwanghaft mit Rechenaufgaben beschäftigt, die wie Träume auftauchten und vielleicht Träume waren. Ich kam der Lösung nahe und merkte, daß ein Element fehlte, oder verlor ein notwendiges Bindeglied meiner Gedankenkette. Ich wußte, daß die Aufgaben absurd waren und daß ich sie unmöglich im Kopf lösen konnte, aber trotzdem konnte ich weder aufhören noch aufstehen, Licht anschalten und versuchen, sie mit Papier und Bleistift auszurechnen. Natürlich hätten sie sich dann sofort in Luft aufgelöst. Ich konnte mich nicht einmal mehr zum Masturbieren aufraffen, obgleich ich in der Schulzeit gelernt hatte, es regelmäßig als Vorspiel zum Schlaf zu nutzen. Wenn ich es doch mal versuchte, auf den normalen Effekt hoffend, konnte ich nicht einmal eine Erektion zustande bringen. Eine andere nächtliche Qual war das Jucken am ganzen Körper. Ich kratzte und warf mich im Bett hin und her; meine Haut war mir widerlich; ich dachte, meine Knochen würden vor Hitze verbrennen.
Ich wollte weder George noch Henry sehen. Wenn einer von ihnen anrief und sagte, wir sollten uns treffen, erfand ich Ausflüchte oder behauptete, ich sei zu müde. Wahrscheinlich hätte das Zusammensein mit ihnen kaum einen Unterschied gemacht: Sie verwöhnten mich und hielten es zugleich für selbstverständlich, daß ich noch monatelang elend aussehen und in elender Verfassung sein würde. Da wir nicht dieselben Kurse belegt hatten, konnten sie nicht wissen, daß ich mich nicht um den Unterricht kümmerte und nicht zu den Prüfungen erschienen war. Tom Peabody hatte vielleicht mein Fehlen im Speisesaal bemerkt und seine Schlüsse daraus gezogen. Womöglich hatte er auch eine offizielle Mitteilung wegen der Prüfungen erhalten. Aus dem einen oder anderen Grund kam er ein paar Tage später unangekündigt nach dem Mittagessen vorbei. Ich war im Bett und hatte Hemd und Hose auf dem Schreibtischstuhl liegenlassen. Er betrachtete das Szenario, setzte sich auf meine Bettkante und sagte, er habe mich nicht mehr im Speisesaal gesehen. Dann erklärte er mir ohne Umschweife, er habe schon länger den Eindruck, daß ich nicht mehr bei mir sei, und sehe seinen Verdacht jetzt bestätigt. Er machte eine Geste, die meinen unrasierten, ungepflegten Zustand und das Durcheinander um mich herum umschrieb.
Was ist los? fragte er.
Ich gab Auskunft, so gut ich konnte. Ich hatte darauf gewartet, daß die richtige Person mit dieser Frage kam.
XIV
Angst und Verzweiflung folgten. Tom schickte mich zum Gesundheitszentrum der Universität, und so fand ich mich ein paar Tage später wieder in einem mit scheußlichen Harvard-Souvenirs ausgestatteten Zimmer – an den Wänden die Flaggen der Jahrgänge ’37 und ’42, alle möglichen Wimpel, ein Gruppenfoto der Fußballmannschaft und Kupferstiche des Sever-Baus, der Emerson Hall und des Sanders in schweren schwarzen Rahmen, Harvard-Stühle und Harvard-Aschenbecher überall – zum Gespräch mit Dr. Winters ein, dem pfeiferauchenden Psychiater der Universität. Er hatte, wie er mir sagte, die Tests und die Notizen zu zwei vorangegangenen Besprechungen ausgewertet. Mein Zustand sei eindeutig: Ich hätte eine üble Bodenwelle erwischt und den schleudernden Wagen noch nicht wieder im Griff. Ich gab keine Antwort. Er zog mehrere Male an seiner Pfeife, machte dann den Mund wieder auf und sagte, ich sei ein kranker junger Mann. Aber längst nicht reif für den Schrottplatz. Meine Beschwerden seien zwar ernst, aber näher an einer milden als an einer schweren Depression. Eine intensive Behandlung müßte mich eigentlich wieder auf die Fahrbahn bringen. Ich fragte, ob das heiße, daß ich in ein Krankenhaus müsse. Nicht unbedingt, antwortete er. Sprechen wir über die Behandlung, wenn Sie beim Dekan gewesen sind. In der University Hall
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