Ehrensachen
werden«, und den seltenen Gelegenheiten, wenn ich ihn um einen Wortwechsel wie zwischen zwei normalen Menschen gebeten hatte. Stumm war er jedoch nicht: Er pfiff ununterbrochen fast tonlos vor sich hin, immer die gleiche Melodie, wie mir schien. Eines Tages, als ich still, mit leerem Kopf, unfähig zu sprechen, dalag, erkannte ich sie: When Johnny Comes Marching Home. Wut überkam mich. Ich setzte mich auf und schrie: Herrgott, hören Sie doch auf mit dem Gepfeife. Oh, antwortete er, Sie haben es gemerkt. Ich höre auf.
Hatte er mich reizen wollen? Offenbar war es so; er pfiff absichtlich. Wäre es ein echter Tic, den er nicht beherrschen konnte, hätte er nicht gesagt, er werde es lassen. Irgendwann fragte ich ihn. Die Frage war vergeblich. Er fragte nur zurück: Was denken Sie? Genauso vergeblich war eine Frage, die ich ihm später stellte, in einer Phase wachsender Frustration, weil ich nicht die geringste Besserung meines Zustands entdecken konnte: Wie kommen Sie zu der Überzeugung, Sie könnten mich verstehen? Sie können es nicht. Sie sind nicht hier aufgewachsen; Sie haben Ihr Englisch inder Schule gelernt; Sie sind Jude. Ich setzte mich auf und starrte ihn an. Er lächelte weder, noch runzelte er die Stirn. Das tut nichts zur Sache, belehrte er mich. Den Problemen auf den Grund gehen müssen Sie selbst; ich regele nur den Verkehr. Dann kicherte er. Ich schrie ihn zum zweiten Mal an: Ich hoffe nur, daß ich mir in meinem ganzen Leben nie mehr einen Seelenklempner mit diesen gottverdammten Autometaphern anhören muß. Warum lernt ihr Affen nicht, euch besser auszudrücken! Ich stand vom Sofa auf und ging ohne Abschied weg, gut fünfundzwanzig Minuten vor dem Ende der Stunde. Hayes-Bickford’s, wo ich einen Kaffee trank, war wie ausgestorben. In ganz Cambridge kannte ich keine Menschenseele mehr. Alle, selbst Tom Peabody, waren in die Osterferien gefahren. Um ins Kino zu gehen, war es zu früh. Statt dessen lief ich stundenlang durch die Gegend, auf denselben Wegen wie Henry nach seiner Begegnung mit Margot bei Marios Party; allerdings umging ich die Sparks Street. Am nächsten Morgen war ich wieder in Dr. Reiners Behandlungszimmer. Er wies mich nicht zurecht, und ich entschuldigte mich nicht; wir machten da weiter, wo wir stehengeblieben waren. Ich war seinen Anweisungen gefolgt und hatte mich von der Traumdeutung und allen anderen psychoanalytischen Schriften ferngehalten. Allerdings war mir am Tag vorher auf meinem langen Spaziergang eingefallen, daß meine Frage nach Dr. Reiners Fähigkeit, eine feine Blüte Neuenglands wie mich zu analysieren, vielleicht dumm gewesen war. War es aus seiner Sicht nicht sehr wahrscheinlich, daß die Entwicklung von Neurosen quasimechanischen, allgemeingültigen Regeln folgte, so daß kulturelle Unterschiede zwischen ihm und mir zwar interessant sein mochten, aber kaum ins Gewicht fielen? Einige Sitzungen später probierte ich diese Erkenntnis an ihm aus. Er erklärte mir, unsere Sitzungen seien nicht zu Theoriediskussionen da.
Ende Juli fuhr Dr. Reiner in seine alljährlichen Sommerferien am Cape. Ich spielte nicht einmal mit dem Gedanken, ihn zu fragen, ob wir die Analyse beendet hätten. Ein paar Wochen zuvor hatte ich ihn daran erinnert, daß es Zeit sei, im College Bescheid zu geben, ob ich im Herbst zurückkommen würde, und um seine Meinung gebeten. Die Frage sei, ob ich Lust hätte, zurückzugehen, erwiderte er. Ich antwortete mit Ja. Aber würde er mir meine Gesundheit mit einem Dokument bescheinigen können, das der Verwaltung genügte?
Im September wieder zum College, sagte er nachdenklich. Das ist früh, Mr. Standish. Trotzdem: ich denke, wenn Sie es möchten, dann sollten Sie es versuchen.
Ich sagte, mir gehe es schon besser.
Alles ist relativ, erwiderte er. Ich würde eher sagen: Ihr Umgang mit Ihrem Problem hat sich zum Positiven gewendet. Aber Sie müssen weitermachen. Ich empfehle, daß Sie in Behandlung bleiben, mindestens solange Sie auf dem College sind. Vielleicht auch danach.
Ich fragte, ob es fünf Sitzungen pro Woche sein würden.
Er nickte. Ja, bei mir oder einem anderen qualifizierten Therapeuten.
Und wann wird es damit vorbei sein? fragte ich wieder.
Das kann ich nicht sagen, antwortete er. Sehr wahrscheinlich werden Sie es als erster wissen.
Ein Teil der Antwort bestätigte, was ich mir erhofft hatte: Ich würde nicht im Stich gelassen werden. Auch wenn ich inzwischen wußte, daß Dr. Reiner teurer war als die beiden anderen Psychiater
Weitere Kostenlose Bücher