Ehrensachen
gewesen. Das hatte ich gehofft, verriet Denis. Ich bin froh, daß ich dich mit Jarry bekannt gemacht habe. Er ist der Ausgangspunkt für alles Wichtige im Theater der Avantgarde des zwanzigsten Jahrhunderts, auch für Brecht. Einen Wendepunkt markierte Jarry besonders klar: die Abkehr vom Illusionstheater. Vorzuspiegeln, daß das Geschehen auf der Bühne wirklich sei, ist nicht der besteWeg, Wirklichkeit darzustellen. Überzeugender ist Theater dann, wenn man den Zuschauern deutlich macht, daß sie eine Vorführung sehen, daß Schauspieler die Personen im Stück darstellen, aber nicht diese Personen sind, und daß der Schauplatz der Handlung die Bühne ist und nicht das Schloß Elsinore oder ein bürgerlicher Salon.
Der Schauspieler muß Distanz zu seiner Rolle halten, erklärte mir Denis. Niemand im Publikum kann glauben, daß eine Aufführung von Ubu Vorfälle wiedergibt, die sich wirklich ereignet haben. Eine Analogie zu Ubu ist die »Mausefalle«, das Spiel im Spiel im Hamlet : »Darstellung eines Mordes in Wien«. Niemand im Publikum – weder die wirklichen Zuschauer im Theater noch die Zuschauer auf der Bühne, auf die es ankommt, König Claudius und Königin Gertrud – glaubt auch nur einen Moment, daß die Schauspieler tatsächlich der Herzog Gonzago, sein mordender Bruder oder seine treulose Königin sind, aber deshalb wird die Moral des Spiels um so deutlicher. Stimmt, sagte ich, das gilt für das Spiel im Spiel. Aber wie steht es mit dem Stück Hamlet selbst und mit dem Protagonisten? Genauso, antwortete er ungeduldig, du glaubst doch keine Sekunde, daß das Publikum im Zuschauerraum den Mann im schwarzen Renaissancekostüm, der eine blonde Perücke trägt und wunderbare Worte spricht, häufig im Monolog, für den Prinzen von Dänemark hält.
Du kannst dir vorstellen, fuhr Henry fort, daß mir diese und andere Theatererfahrungen, von denen Denis erzählte, großen Eindruck machten. Ich las daraufhin die meisten Brechtstücke in einer französischen Übersetzung, die Denis sich von seinem Assistenten aus Brüssel hatte schicken lassen, und die Theaterstücke von Apollinaire und Cocteau in Mr. van Dammes Bibliothek. Denis hatte recht. Jarry war ein geniales Strohfeuer. Trotzdem weiß ich nicht, ob mich Jarry oder Denis’ Reden über das Theater so interessierthätten – wenn le père Ubu nicht gewesen wäre. Der hat mich nicht mehr losgelassen, dieser Falstaff ohne Charme, dieser gefräßige, feige und durch und durch grausame Fettwanst. Von Natur aus grausam. Ein Söldner im Dienst des Polenkönigs Wenzeslas. Da fällt mir ein: Ich weiß nicht, ob Jarry das Weihnachtslied kannte, aber so ein König ist sein Wenzeslas, ein guter St. Wenzeslas. Ubu stürzt Wenzeslas, bringt ihn um und macht sich selbst zum König. Dann schlägt er polnische Adlige und Steuereinnehmer tot und dazu seinen wichtigsten Mitverschwörer und blutet das Land aus. Er besteuert Polen nach seinem Phynanzsystem – das ist eine von Jarrys Erfindungen, ein urkomischer und betrügerischer Unsinn, den du auf der ersten Seite der Times lesen würdest, ohne dich zu wundern. Dann wird Ubu seinerseits gestürzt. Du siehst, das Ganze ist ein einziger Nonsens, und mehr sage ich nicht. Das Seltsame ist, daß mir alles Polnische darin wunderbar treffend vorkam – genial. So war mein Polen, so waren meine polnischen Landsleute. Ein lustiger Haufen. Und deshalb hat Ubu mich nicht losgelassen.
Möchtest du das Stück lesen? fragte er mich. Wenn du willst, ich habe es hier in meiner Büchermappe, im Original und auf englisch. Die Übersetzung habe ich in Bayencourt geschrieben. Denis meint, man könne sie veröffentlichen – wenn ich jemanden finde, der sich für Jarry interessiert.
Ich sagte, natürlich würde ich das Stück lesen.
Henry kramte in seiner Mappe und zog ein sehr schönes ledergebundenes Büchlein heraus, Denis’ eigenes Exemplar, das er ihm zum Abschied geschenkt habe, und das Typoskript der Übersetzung.
Es wird dir Spaß machen, sagte er. Ich habe beschlossen, Ubu aufzuführen. Warum, das wirst du verstehen, wenn du es liest, und du wirst auch denken, daß ich eine Besetzung und eine Ausstattung in der Größenordnung von Birth of a N ation brauche. Aber das stimmt nicht. Die erste Aufführung mit richtigen Schauspielern – Professionellen – fand 1896 im Théâtre de l’Œuvre statt, und im Publikum saß ausgerechnet W. B. Yeats. Als der Vorhang fiel, gab es großes Geschrei und Buh-Rufe, weil viele Zuschauer das
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