Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Ehrenwort

Titel: Ehrenwort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
Vom Netzwerk:
leichten Turnschuhen daherkam.
    Sie war ein bisschen größer und wohl auch älter als er, hatte die blonden Haare zu einem dicken Zopf geflochten und trug einen kurzen rosa Kittel über ihren weißen Hosen. Max roch Lavendel und eine kürzlich gerauchte Zigarette.
    »Hallo«, sagte er.
    »Wie geht's deinem Opa?«, fragte sie. »Heute will ich mal versuchen, ihn aufs Klo zu setzen. Vielleicht kannst du mir dabei helfen.«

    Der Alte wurde ziemlich ärgerlich, als Jenny und Max ihn an den Rand der Bettkante zogen und schließlich auf den herbeigerollten Toilettenstuhl bugsierten. Als er endlich mit heruntergezogenen Hosen Platz genommen hatte, brüllte er: »Raus jetzt! Alle beide! Aber dalli, dalli!«
    »Wir sind hier nicht bei Knigges«, sagte Jenny, ging aber mit Max vor die Tür, die sie allerdings nur anlehnte.
    »Ich habe ihn noch nie nackt gesehen«, sagte Max. »Es muss ihm tierisch peinlich sein...«
    »Meistens dauert das ein Weilchen bei den alten Männern«, sagte Jenny. »Dann kann ich ja schnell eine rauchen.«
    »Darfst du das?«, fragte Max.
    »Wenn du nichts dagegen hast«, sagte sie und steckte sich eine Zigarette an. Während sie inhalierte, behielt sie den Patienten im Auge.
    »Dass er uns bloß nicht kollabiert.«
    »Machst du das eigentlich gern?«, fragte Max.
    »Früher wollte ich Polizistin werden«, sagte Jenny, »doch das hat nicht geklappt.«
    »Und ich wollte Medizin studieren. Aber vielleicht werde ich einfach Altenpfleger.«
    »Willkommen im Club!«
    Schließlich gingen beide wieder hinein. Der Alte hatte keinen Erfolg gehabt und war übelgelaunt und ungnädig.
    »Ihr riecht nach Rauch«, sagte er. »Wenn ich endlich eine Zigarre kriege, kommt auch die Verdauung wieder ins Lot.«
    Schwer atmend lag er dann im Bett. Jenny ging ins Bad und wusch sich gründlich die Hände. Die Ärmel hatte sie hochgestreift, und Max entdeckte an jedem Unterarm eine Tätowierung.
    »Drachen und Schmetterling«, sagte er, »beide können fliegen!«
    »Eine Jugendsünde«, meinte Jenny. »Wenn ich mal zu Geld komme, lass ich es mir wieder wegmachen.«
    »Schade«, fand Max. »Sollte ich ihm wirklich eine Zigarre bringen? Meine Eltern würden mich steinigen!«
    »Sie müssen es ja nicht unbedingt mitkriegen. Und ich kann schweigen. - Was war dein Großvater eigentlich für ein Mensch? Ich meine, als es ihm noch gutging...«
    »In den letzten zwei Jahren ist er sehr gealtert, saß vor dem Fernseher und moserte vor sich hin. Aber als meine Großmutter noch lebte, war er ziemlich fit. Die beiden sind gern spazieren gefahren, er hat viel gelesen und ist ab und zu mal mit mir ins Kino gegangen. Einmal im Monat wurden wir zum Essen eingeladen. Meine Oma kochte gut, Klöße und Schweinebraten. Oder Hühnerfrikassee mit Reis.«
    »Und hinterher ein Eis?«
    »Nein, Fisch! Vanillepudding in einer Fischform, dazu eingemachte Sauerkirschen aus dem Garten.«
    »Lecker«, sagte Jenny und verabschiedete sich.
    Max pfiff vor sich hin und war auf einmal bester Laune. Jenny würde jetzt jeden Abend hier aufkreuzen.
    Die Puddingdiät zeigte Wirkung. Der Großvater verlangte am nächsten Tag ein anständiges Mittagessen. Max dachte an die Gerichte seiner Großmutter und kaufte tiefgefrorene Königsberger Klopse und Kartoffelbrei aus der Tüte. Der Alte verputzte eine mittlere Portion, den Rest würzte Max mit viel Curry und Pfeffer und aß ihn selbst.
    »Wer bezahlt eigentlich die Pflegerin?«, fragte Willy Knobel und dehnte sich wohlig. Er hatte endlich ein sattes warmes Gefühl im Magen.
    »Wahrscheinlich doch die Krankenkasse, also die Pflegeversicherung«, sagte Max. »Aber wir wissen noch nicht, wie der Amtsarzt dich eingestuft hat.«
    Der Alte dachte eine Weile nach. »Und wer bezahlt mein Essen?«
    Max hatte bisher alles mit dem Geld seines Großvaters beglichen und antwortete etwas vage: »Opa, du wohnst schließlich bei deinem Sohn!«
    Wieder längeres Grübeln.
    »Ich lasse mich doch nicht vom Diplom-Ingenieur aushalten! Junge, du musst auf die Bank und Geld für mich abheben. Ich schreibe dir eine Vollmacht.«
    »Die Geheimzahl oder ein Barscheck würde genügen«, meinte Max und sah einen erschreckten Blick. Willy Knobel misstraute Geheimzahlen und Schecks, denen man leicht eine Null anhängen konnte.

    Am Abend stieß Harald an der Haustür beinahe mit einer fremden Person zusammen, die einen dicken Schlüsselbund aus der Tasche zog und aufschloss.
    »Hallo, ich bin die Jenny«, sagte sie und strahlte ihn

Weitere Kostenlose Bücher