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Ehrenwort

Titel: Ehrenwort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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dachte der Alte. Ob ich ihm jetzt sofort die Nasenhaare schneiden sollte, dachte der Junge.

    In letzter Zeit war der Alte meistens freundlich gewesen und im wahrsten Sinne des Wortes pflegeleicht, doch gelegentlich schlug die Stimmung um.
    »Ich mag nicht mehr! Glaubst du etwa, es sei angenehm, gewindelt zu werden wie ein Baby? Ständig angefasst zu werden wie ein Gegenstand? Um alles bitten zu müssen? Nicht mehr Auto fahren zu dürfen? Für bekloppt gehalten zu werden? Man hört und sieht und riecht und fühlt kaum noch. Und irgendetwas zwickt und schmerzt ja immer, man schläft unruhig und träumt vom Schützengraben, das Essen schmeckt fast nie. Eigentlich habe ich lange genug gelebt, es sollte jetzt reichen.«
    Von Jenny wusste Max, dass sich Frauen leichter betreuen ließen als alte Männer. Die Greise hatten einen größeren Widerwillen gegen jegliche Unselbständigkeit und die Notwendigkeit der körperlichen Pflege durch einen Fremden, andererseits ließen sie sich gerne bemuttern. Das Schwanken zwischen Biestigkeit und Larmoyanz sei bei Frauen seltener. Insofern war der Großvater noch angenehm, denn seine zornigen Ausbrüche richteten sich vor allem gegen den Fernseher, weniger gegen das Pflegepersonal.
    Manchmal redete der Alte nicht nur mit der toten Ilse, sondern auch mit sich selbst. Max hatte längst gelernt, das nicht gleich als Zeichen der Verwirrtheit zu deuten. Da der Großvater die letzten Jahre allein gelebt hatte, waren Selbstgespräche wohl zur Gewohnheit geworden. Zum Beispiel hörte ihn Max nach dem Mittagsschlaf regelmäßig sagen: »Steh auf, du alter Hund!«
    Auf diesen Befehl hin griff sein Großvater ächzend, aber entschlossen nach dem Bettgalgen und zog sich hoch.

    »Heute Nachmittag um vier erwarte ich dich in meinem Zimmer, ich bekomme Besuch«, sagte Willy Knobel und schaute Max mit wehmütiger Strenge an. Tatsächlich klingelte es um diese Zeit an der Haustür. Ein fremder Mann im Glencheck-Sakko trat ein, ließ sich von Max in das Zimmer des Alten führen und setzte sich an Mizzis kleinen Schreibtisch.
    Der Alte hatte sich zuvor von Max schniegeln, striegeln und bügeln lassen - wie er sich ausdrückte - und saß mit Anstand und Würde dem Notar gegenüber. Trotz seines Fleece-Anzugs war er ganz der vornehme alte Herr, dachte Max bewundernd.
    Nun wurden Papiere ausgebreitet, und Max wurde immer neugieriger. Irgendwann begriff er, dass sein Großvater ihm das Haus in Dossenheim schenken wollte und der Notar die Sache amtlich machte. An dieses großzügige Vorhaben war jedoch eine Bedingung geknüpft: Max sollte gemeinsam mit dem Großvater dort einziehen, und zwar unverzüglich.
    »Auch für deine Freundin finden wir bestimmt ein schönes Zimmerchen«, sagte der Alte. »Doch das kommt jetzt nicht ins Protokoll.«
    Der Notar reichte Max die Hand. »Ich gratuliere Ihnen«, sagte er. »In so jungen Jahren bereits Hausbesitzer, das gibt es nur selten.«
    »Sie werden es vielleicht nicht sofort verstehen«, sagte Willy Knobel zum Notar, »aber dieses Haus soll mein Enkel bekommen, weil meine Kinder es nicht verdient haben.«
    Und dann rechnete der Alte mit seinen Nachkommen ab: »Meine Tochter Karin sitzt weitab vom Schuss, ruft höchstens zweimal im Jahr an und quasselt dann über das Wetter in Australien. Im Grunde war ihr nur ihre Mutter wichtig. Und mein Sohn Harald will mich lieber heute als morgen aus dem Haus haben. Am Anfang tat er noch freundlich und bot mir einen guten Cognac an, aber damit war es schnell wieder vorbei. Die kriegen alle beide nur den Pflichtteil und keinen Cent mehr. Summum ins, summa iniuria.«
    »Das strengste Recht ist die größte Ungerechtigkeit«, übersetzte der Notar. Anschließend wurde der Beschenkte entlassen, denn nun ging es um die Abfassung des Testaments.

    Offensichtlich hatte sich Willy Knobel sehr aufgeregt. Als er wieder allein war, fing er aus voller Kehle an zu singen:

    Und stechen mich die Dornen
    Und wird mir's drauß zu kahl
    geh ich dem Ross die Spore
    und reit ins Neckartal.

    Die Stimme des Großvaters war seit seinem Unfall sehr leise, ja gelegentlich fast unverständlich geworden. Wenn er verwirrt war, änderte sich sein Tonfall. Max wusste, dass dieser Gesang wohl der Beginn einer konfusen Phase war, brachte reichlich Mineralwasser und versuchte, so gut es ging, seinen Großvater zu beruhigen.
    Was, wenn die Eltern den Großvater in seinem jetzigen aufgelösten Zustand nicht für voll nehmen und die ganze Aktion des Notars

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