Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)
gründlich von Selbsttäuschungen genährt, daß man Widersprüche zwischen Wort und Wirklichkeit gar nicht mehr wahrzunehmen vermochte. Zu Beginn der dreißiger Jahre war in Ungarn unter dem Einfluß des italienischen Faschismus eine starke faschistische Bewegung entstanden, die sogenannten Pfeilkreuzler, und 1938 waren die Ungarn dem italienischen Beispiel gefolgt und hatten erste antijüdische Gesetze erlassen; trotz des starken Einflusses der katholischen Kirche im Lande galt die Regelung auch für alle nach 1919 getauften Juden und wurde drei Jahre später sogar auf die vorher Konvertierten ausgedehnt. Es handelte sich also von vornherein um einen konsequent rassistischen Antisemitismus, der seit 1938 offizielle Regierungspolitik war, was aber nicht hinderte, daß weiterhin elf Juden im ungarischen Oberhaus saßen. Als einziges Achsenland schickte Ungarn jüdische Truppen an die Ostfront – 130 000 Mann, für Hilfsdienste zwar, doch in ungarischen Uniformen. Diese Inkonsequenzen lassen sich damit erklären, daß ungeachtet ihrer offiziellen Politik die Ungarn einen noch stärkeren Unterschied als andere Länder zwischen einheimischen Juden und »Ostjuden« machten, zwischen den »magyarisierten« Juden, die in »Trianon-Ungarn« (wie die anderen Nachfolgestaaten war auch Ungarn durch den Vertrag von Trianon ins Leben gerufen worden) ansässig waren, und denen in den neu annektierten Gebieten. Bis zum März 1944 wurde Ungarns Souveränität von der Naziregierung respektiert, mit dem Erfolg, daß für die Juden dieses Land zu einer Insel der Sicherheit wurde, »inmitten des [sie] umgebenden Trümmermeers«. Daß die deutsche Regierung, als die Rote Armee durch die Karpaten vorrückte und die ungarische Regierung nach italienischem Beispiel verzweifelt einen gesonderten Waffenstillstand abzuschließen versuchte, Ungarn zu besetzen beschloß, ist verständlich genug; aber daß für die Nazis in dieser Phase des Krieges »ein gründliches Anpacken der Judenfrage aus vielerlei Gründen ein Gebot der Stunde« war und daß sie »ihre Bereinigung«, wie es Veesenmayer in einem Bericht an das Auswärtige Amt vom Dezember 1943 formulierte, als »die Voraussetzung für die Einschaltung Ungarns in den Abwehr- und Existenzkampf des Reiches« ansahen, würde man nicht für möglich halten, wenn es nicht Wirklichkeit gewesen wäre. Denn die »Bereinigung« dieser »Frage« bedeutete nicht weniger als die Evakuierung von 800 000 Juden, zu denen noch schätzungsweise 100 000 bis 150 000 getaufte Juden hinzukamen.
Wie dem auch sei, ich erwähnte bereits, daß Eichmann wegen der Größe und der Dringlichkeit dieses Vorhabens im März 1944 in Budapest eintraf, mit ihm sein ganzer Stab, den er jetzt leicht zusammenrufen konnte, da überall sonst die Arbeit beendet war. Er holte Wisliceny und Brunner aus der Slowakei und Griechenland, Abromeit aus Jugoslawien, Dannecker aus Paris und Bulgarien, Siegfried Seidl von seinem Posten als Kommandant von Theresienstadt und Hermann Krumey, der in Ungarn sein Stellvertreter wurde, aus Wien. Aus Berlin brachte er alle wichtigeren Mitglieder seines Amtes mit: Rolf Günther, der dort sein erster Stellvertreter gewesen war, Franz Novak, seinen Transportsachbearbeiter, und Otto Hunsche, seinen Rechtsberater. So bestand das »Sondereinsatzkommando Eichmann« aus etwa zehn Leuten sowie einigen Bürokräften, als es sein Hauptquartier in Budapest aufschlug. Gleich am Abend ihrer Ankunft luden Eichmann und seine Leute die jüdischen Führer zu einer Besprechung über die Bildung eines Judenrats ein, durch den sie ihre Befehle weiterleiten könnten und dem sie ihrerseits absolute Verfügungsgewalt über alle Juden in Ungarn geben würden. Die Juden von dem Nutzen dieser Institution in diesem Augenblick noch zu überzeugen dürfte nicht ganz einfach gewesen sein. Denn damals hat bereits, nach den Worten des päpstlichen Nuntius, »die ganze Welt gewußt, was Deportation in der Praxis bedeutete«.
In Budapest hatten die Juden zudem »eine einzigartige Gelegenheit, das Schicksal des europäischen Judentums zu verfolgen. Wir wußten sehr gut Bescheid über die Tätigkeit der Einsatzgruppen. Wir wußten mehr als nötig war über Auschwitz«, wie Dr. Kastner später in Nürnberg zu Protokoll geben sollte. Eichmanns angebliche »hypnotische Kräfte« können unmöglich ausgereicht haben, um zu diesem Zeitpunkt irgend jemanden davon zu überzeugen, daß die Nazis den geheiligten Unterschied zwischen
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